Ines Lindner: Anna Oppermann

in Katalog: Ich bin nicht ich, wenn ich sehe, Berlin 1991, S. 112-127
englische Übersetzung

 

Dialog?

Das Blaue vom Himmel herunterlügen, Kiel, April 1991

Ordnungen und Paradoxe

Anna Oppermann. Unbedingt. Von Anfang an hatte ich den Wunsch, sie für das Projekt zu gewinnen. Ihre Ensembles sind bereits eine Adressierung an das Projekt avant la lettre, schon in sich Erkundungen zu den Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen Darstellungsmedien, eine Befragung des Wissens von Bildern, seine Unterwanderung durch die Bildkonstellationen selbst. Es entstehen Orte der Überschneidung und Begegnung verschiedener Bildersprachen. Ihre künstlerische Arbeit ist ein permanenter Forschungsprozeß. Problemfelder werden ausgeschritten, einzelne Aspekte hin und hergewendet und in unterschiedlichen Konstellationen entfaltet, die nie endgültig sind. Die Ensembles sind offen, nicht, weil sie - wie allenthalben zu lesen ist - »wuchern«. Die organisch biologische Metapher verdeckt die materiale Arbeit der Fragmentierungen und der Montage. Anna Oppermann arbeitet methodisch mit ihrer Kunst an der Entdisziplinierung des Wissens. Sie selbst versteht ihre Arbeit als interdisziplinär. In einem Beitrag zum Thema Grenzüberschreitung hat sie sich ausführlich und witzig mit dem »Dilemma der Vermittlung« auseinandergesetzt, das sich bei der Begegnung von Künstlern und Kunstwissenschaftlern auftut. Was passiert, wenn sie mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen, ihren deformations professionelles aufeinandertreffen?: »Es knallt(1)«!

Diese lapidare Diagnose trifft ziemlich genau das, was bei der Begegnung von Wissenschaftlerinnen, die sich mit Künstlerinnen im Februar 1989 im Bonner Kunstverein trafen, passiert ist (2). Aber es zündete auch. Anna wies einen kunsthistorischen »Ortungsversuch« von mir harsch ab. Und doch gab es eine gegenseitige Einläßlichkeit, einen Adressentausch mit Überraschung: Sie hat ihr Arbeitsrefugium in meinem Geburtsort.

Dort treffe ich Anna für ein erstes Gespräch im Rahmen des Projekts »Dialoge«, mein im Monat zuvor geborenes Kind im Arm. Mit ihm ist es, als hätte ich einen durch die Zentralperspektive organisierten Raum verlassen, wo markiert ist, wo ich bin, wo es/das andere ist, welche Größen/Entfernungs/Näheverhältnisse herrschen. Schwer zu sagen, wo oben und unten ist. Irritierend, aber vielleicht die passende Disposition für das Gespräch mit Anna, für ihre Ensembles, die weder eine statische Subjektposition voraussetzen noch einfordern. Das Spiel der Facetten, Texte, Embleme, die Offenheit aller Perspektiven in ihm verhindern, daß man es sich bequem machen kann in der ästhetischen Distanz, aus der »das Ganze« zu überblicken wäre. Sich auf die rhythmische Struktur von Wiederholung, Ausschnitt, Vergrößerung, Verkleinerung, von Text und Bild einzulassen verlangt Tanzschritte, Drehungen, halbe Kehrtwendungen: wer sehen will, muß sich geradezu physisch auf die perspektivischen Rhythmen von nah und fern, Vergrößerung und Verkleinerung, von Text und Bild einlassen. Jedes Anhalten, jedes Hierarchisieren eine kleine Lüge, die im Gemurmel eines Kommentars untergeht, mit dem die Facetten des Ensembles untereinander kommunizieren, den Dialog aufnehmen. . .



Dialog?

Mal forsch und fordernd, mal zag habe ich die Rolle der Fragerin eingenommen, die Annas Arbeitsweisen auf die Spur zu kommen versucht - und den eigenen. Von der ersten Begegnung mit ihren Ensembles an hat mich beschäftigt, daß sie sich um einen Faszinationskern kristallisieren, der für eine besondere Blickeinstellung sorgt: In Lektüren, Wahrnehmungen aller Art, im Zufälligen, Ephemeren macht Anna Spuren der Verzweigungen aus, die Bestandteil der Arbeit werden.

Das ästhetische Konzept der Präsentationsform, die Anna dafür entwickelt hat, gibt dem Raum, was in der Linearität argumentativer Texte meist verschliffen wird. Wie wenig bleibt in kunsthistorischen Texten von den Liebesblicke und Schwerter kreuzenden Kämpfen zwischen Bildern und Texten über, die überhaupt keine Neigung zeigen, sich den Geboten der Disziplin zu unterwerfen; den zwischen Bildern und Bildern, Texten und Texten, die illegitime Verbindungen eingehen und die lebensfrohsten Bastarde zeugen. Meist werden sie dem vorweggenommenen bösen Blick des Fachpublikums geopfert oder so zugerichtet, daß sich Staat mit ihnen machen läßt. Anna hat sich bemüht, auf meine Fragen zu antworten und zeigte sich immer wieder von Zweifeln geplagt, ob es das war, was zu sagen gewesen wäre. Ich fing an, meine Fragen zu befragen, das Fragen selbst. Welche Art von Antworten erwartete ich denn, wenn ich nach einem Gespräch mit einer gewissen Ratlosigkeit vor meinen hingekritzelten Notizen saß? Auch präzise Vorstrukturierungen änderten nichts daran. Da andere Wissenschaftlerinnen aus dem Projekt von ähnlichen Erfahrungen berichteten und eine Künstlerin mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrigließ, sich weigerte, auf aus dem Projektzusammenhang entwickelte Fragestellungen überhaupt zu antworten, war es an der Zeit, die Mechanismen des Frage- und Antwortspiels im Dialog zu überdenken.

SOKRATES: Betrachten wir es demnach so. PHAIDROS: Wie denn? Offenbar. Ich gestehe es. Gerade so. Ja. Wie anders? So freilich. Allerdings. Wie eigentlich meinst du dieses? Wie sollte ich nicht! Notwendig. Unmöglich. So geht es wohl zu damit. Niemals. So wird es wohl sein (Platon, Phaidros).

MARCEL DUCHAMP: So war es. Das stimmt. Das weiß ich selber nicht. So ist es. Das stimmt schon, aber ich hatte das damals schon wieder leid (Piere Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp).

FLORIAN RÖTZER: Herr Minsky, Sie begannen als... TIMOTHY LEARY: Aa, burn out, take a rest (Kunstforum 110).

Das scheinbar allein der Neugier folgende Spiel von Frage und Antwort im Gespräch, Dialog, Interview, zeigt sich beim näheren Zusehen als eine Struktur kultureller Vermittlung, deren Regeln von einer Ergebnisorientierung bestimmt sind: Position der Sprechenden, Art und Ort der Veröffentlichung bestimmen das, was gesagt, was vom Gesagten wahrgenommen wird, und was in Schrift verwandelt als »Quelle« zitiert wird. Während im Sprechen Gedanken, Gefühle und Wörter ineinander übergehen, jederzeit die Möglichkeit der reaktiven Ergänzung gegeben ist, setzt mit der Verschriftlichung die Trennung ein. Was wird sie damit machen? Die mißtrauische Rückfrage der Befragten, markiert ein Konfliktfeld zwischen Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, die sich im Projekt »Dialoge« weit mehr aufeinander eingelassen haben, als sonst üblich, mehr und anders, intimer, als wenn ein routinierter Frager für ein Gespräch anreist, das in einer Zeitschrift, einem Katalog veröffentlicht werden soll. Ein verwirrendes Spiel von Abweichungen, Zulassen, Zurückziehen setzt ein, Wunsch und Angst gegenüber diskursiver Vereindeutigung treiben die schönsten Blüten.

CELLE; DIENSTAG; DEN 27. NOVEMBER 1990

Durch das Fenster eines Ladens sieht man Annas Ensembles. Frauen gehen zwischen ihnen herum, die meisten Teilnehmerinnen des Projekts. Vielleicht habe ich sie eingelassen. Möglicherweise gegen Annas Willen. Asiaten kommen eine flache Treppe Seite an Seite herunter. Wortlos, nicht unhöflich, bestimmen sie uns, den Laden zu verlassen. Vielleicht sind es Chinesen.

Die Traumsequenz nimmt das Spiel zwischen Herzeigen und Verbergen, Einladen und Abweisen auf und wirft ein Streiflicht auf meine eigene Position.

Erst dann ein Verschreiben beim Übertrag auf ein Blatt für Anna werde ich auf die an(n)a(-?)grammatische Struktur, die verschlüsselte Botschaft in den »Chinesen« aufmerksam, in denen »ich« steckt und »Ines«. Erst in der Schrift zeigt sie sich, der selbst der Montagecharakter abzulesen ist.

Immer ist der Text nur der halbe Text, hier buchstäblich, denn in meiner Wiedergabe unterschlage ich die Kommentarzeilen, die ich für Anna beigefügt habe und das Foto mit dem Blick auf »Das Blaue vom Himmel herunterlügen« durchs Fenster unten auf dem Blatt. In der Kieler Präsentation selbst Teil des Ensembles, ist es in neue Lektüre- und Sehkontexte eingegangen, für mich lesbar als Spur unseres Dialogs, lesbar dort als Teil mit den anderen Teilen im Dialog. Auch andere Spuren entdecke ich während der letzten Aufbauphase wieder und begreife erst jetzt, daß das Ensemble nicht Gegenstand, sondern Ort des Dialogs ist, Annas Art zu antworten; verstehe ich meine eigene arbiträre Textwahl auf den Spuren des »Blaus«, meine Textproduktion, die zahllosen Kontaktbögen von Fotos mit einer Art heiteren Überraschung, ja Herzklopfen, als das, worauf sich die »Dialoge« in der Konzeption der Projektgruppe richten sollten: Eine Form der ästhetischen Praxis. Annas Arbeitsweise, vielleicht Faszinationskern und Dynamik des Ensembles selbst, haben meine Taschen umgekehrt und die Fundstücke, Träume, Reflexionen in Bestandteile eines Wort- und Bildernetzes verwandelt, das einen eigenen Raum entwirft.



Das Blaue vom Himmel herunterlügen, Kiel, April 1991

Die Farben des Ensembles, rot, vor allem blau, leuchten in der Helligkeit des Galerieraums. Das Tageslicht fällt durch die Glasseiten eines Obergadens, der den 17 Meter langen und 6 Meter breiten Raum durchzieht. Die Länge des Raums und der Obergaden, der 2 Meter in ihn hineindrückt, werfen erhebliche Probleme für die Installierung des Ensembles auf. Ihre Spur ist in kleinen Zeichnungen im Ensemble bewahrt, die zwei Figuren zeigen: Die eine hält einen sich biegenden Zollstock in der aufgereckten Rechten, daneben verzweifelt Maße protokollierend die andere. Die Herausforderung des Raums erweist sich als Glücksfall für das Ensemble, für eine künstlerische Arbeitsweise, die in der Auseinandersetzung mit einem gegebenem Raum den eigenen als heterotopen entwirft. In den Galerieraum eingezogen ist eine Lattenwand, die als Bildträger fungiert. In sie eingepaßt sind alte Fenster: Eins, das in Höhe der Scheiben des Lichtgadens die Durchsicht auf den dahinterliegenden Galerieraum gibt, mit dem von der Rückseite in Spiegelschrift aufgebrachten Monogramm A.O. und der Jahreszahl 91 und vier weitere, die einen Erker bilden. Sie sind teilweise verspiegelt, zum Teil rot und blau übermalt. Zwei Felder ermöglichen den Durchblick in den Raum dahinter und umgekehrt.

Spiegel und Fenster zitieren den Umraum in das Ensemble, der auch in Bildausschnitten darin präsent ist. Der durch Wände und weiße Podeste markierte Ort ist zugleich abgegrenzt und durchlässig, öffnet und schließt sich in Durchblicken und Spiegelungen, setzt Innen und Außen in Bildschnitten an- und ineinander.

Durch das zwischen Decke und Obergaden in der Lattenwand installierte Fenster mit dem Monogramm sieht man von der Tür her blaue Lichtstreifen an der Decke des Galerieraums hinter dem Ensemble. Blau übermalte Folien als Membran zwischen Außen und Innen nutzen den Lichtgaden als Bestandteil der Installation. Der blaue Lichteinfall intermittiert und lenkt den Blick auf ein Bild an der Rückwand des Galerieraums, ein Porträt Annas durch die Tür des Glasschreins mit rot und blauer Bleiverglasung. Seine Ansicht und Farbigkeit wird in vielfachen Brechungen wiederholt. Mit dem Erker, neben dem er postiert ist, wird er als Raumelement zitiert und verdoppelt. In beiden und ihrem gemeinsamen Umfeld sind kleine Zeichnungen, Fotos und Texte angeordnet. Ihre Montierung auf Holzklötzchen stellt sie dem Betrachter in den Blick. Die Geste des Herzeigens wird zugleich durch den nur begrenzt einsehbaren Ort, durch die kleinen Formate und ihre Fülle unterlaufen. Einiges kehrt in den großen Bildformaten wieder, die dicht an dicht an Wänden, am Boden und an der Decke installiert sind. Während die Bilder an den Wänden und am Boden jeweils eine Ausrichtung haben, folgen die an der Decke verschiedenen. In der locker asymmetrischen Hängung stehen, aus jeder Richtung betrachtet, einige kopf, einige quer. Nimmt man sich nicht mit hinein in die Bewegung des Sehens, verdreht's einem den Kopf.



Ordnungen und Paradoxe

An einem Nachmittag in Annas Arbeitsrefugium, allein mit dem Ensemble, habe ich versucht, meine Sehbewegungen mit der Kamera zu fixieren. Die letzte Aufnahme des Films zeigt meine Hand mit einem Ektachrom einer Gesamtansicht, das zufällig herumlag. Gegen einen strahlend blauen Himmel draußen sind darauf nur noch farbige Punkte zu erkennen. Anna nimmt diese Aufnahmen ins Ensemble herein: Gezeichnet, gemalt, in unterschiedlichen Formaten begegnet mir in Kiel mein fixierter Blick, in dem sich der aufs Ensemble gegen das Blau des Himmels auflöste.

Eine Beischrift übersetzt ihn in das Spiel der Facetten: »Versuch, das Blau an den Himmel zurückzulügen«. Der Blick wird als Projezierung lesbar und Bestandteil einer Szene. Die Umkehrfigur darin ist eine Volte gegen ein aufklärendes Sehen, den totalisierenden Blick, der das Spiel auf die Wahrheit einer Perspektive zu reduzieren versucht. Gibt es eine Wahrheit des Sehens? »Wenn du sagst, daß du lügst, und du sagst die Wahrheit, lügst du" ist ein klassischer Satz, der Paradoxstrukturen, wie sie Anna in ihrem Ensemble verwendet, entwirren möchte. Zugleich aber bildet er sie ab. Beschreibt er die Wahrheit der Lüge, die Lüge in der Wahrheit? Die Reflexivität des Paradoxons ist eine offene, sie stellt dar und sagt nicht aus. Das Paradox ist ein Phänomen, das die Grenzen der Bezugssysteme, in denen es auftritt, verkehrt und öffnet.

»Wenn du sagst »Hügel««, unterbrach die Königen, »ich könnte dir Hügel zeigen, mit denen verglichen du diesen ein Tal nennen würdest« zitiert Anna die Red Queen aus Lewis Carolls »Alice hinter den Spiegeln« in das Ensemble. Alices Einspruch, daß das Unsinn sei, kommentiert die Red Queen: »Du kannst das »Unsinn« nennen wenn du willst, aber ich habe Unsinn gehört, mit dem verglichen das so vernünftig ist wie ein Wörterbuch.« Vor Alice erstreckt sich eine in rechteckige Felder unterteilte Landschaft. So schnell sie auch rennt, es gelingt ihr nicht, sie in gerader Linie zu durchqueren.

Obwohl die rechteckigen Bildformate an Wänden und am Boden des Ensembles meist schachbrettartig aneinander grenzen, wird der Betrachter bei der Durchquerung ihrer vermeintlich geometrischen Ordnung ebenso Schwierigkeiten haben wie Alice.

Eingestreut am Boden finden sich in der Kieler Version blaue und rote Glasscherben, die einerseits ein fragmentiertes Echo auf das rote und blaue Glas des dreieckigen Schreins sind, zum anderen lassen sie sich zum Diagramm eines Kaleidoskops in Beziehung setzen, das auf einem großen Tableau augenfällig in vorderster Reihe ausgelegt ist.

Ausgehend von den Elementen Farbigkeit, Glas, Spiegelung, von der Struktur des Zerlegens und Wiederholens hat Anna in einer ihre Arbeit begleitenden und sie eingreifenden Reflexionsbewegung den Begriff Kaleidoskop für sich ausprobiert. In Kiel tauschen wir unser Material zu dem von ihr ins Spiel gebrachten Stichwort. Ich hab' ihr eine Fotokopie aus einem alten Brockhaus mit einer genauen Beschreibung und dem Diegramm eines Kaleidoskops mitgebracht, das sie mit roter Farbe auf die Leinwand überträgt, sie gibt mir eine Pappe, auf der sie ihre Überlegungen notiert hat. Grundbestandteile des Kaleidoskops sind im spitzen Winkel zueinander gesetzte Spiegel, an die durchsichtiges und mattes Glas angrenzt. Die Konstruktion sorgt für die prismatische Zerlegung der eingeschlossenen Objekte. Für den Betrachter ergänzen sich Objekte und ihre Teilansichten zu einem symmetrischen Muster, dem »schönen Bild« (Kaleidoskop = Schönbildschauer). Die Grundelemente des Kaleidoskops finden sich in dem dreieckigen Glasschrein, den die »Legende« zum »Das Blaue vom Himmel herunterlügen« unter die Ausgangsobjekte des Ensembles zählt. In ihm werden die Reflexe, darunter die seines farbigen Glas, nach dem Spiegelgesetz zerlegt und vervielfältigt. Der Nahblick in den Schrein kehrt in Zeichnungen und auf Leinwänden wieder. Er wird selbst in den Prozeß einer Zerlegung und Vervielfältigung gezogen, die für Annas Ensemble charakteristisch ist. Auf einigen Bildern dieses Nahblicks ist die Spiegelung einer sternförmigen Aussparung in der roten Randeinfassung der Schreintür zu sehen. Ein Ideogramm rückt diesen Stern in die Abfolge der Grundfiguren des Ensembles. Auf einigen Bildern erscheint darüber in Blau ein Auge skizziert. Es markiert die Positionierung des Augenpunkts, vielleicht auch das Auge der BetrachterIn. Zugleich ließe sich bei der Überlagerung des Sterns durch das Auge an eine weitere Zerlegung denken: »Augen-Stern«, so daß die Überlagerungsfigur als Bilderschrift zu lesen wäre. Überall im Ensemble mischt sich die Schrift ein, überlagert und hinterlegt die Bilder. Nur selten als Erläuterung des Bilds selbst zu lesen, erzeugt sie am Ort ihres Auftretens Dissymmetrien, die den Betrachter andere Bezüge - zum Titel, zu anderen Teilen des Ensembles aufnehmen läßt. Die Herstellung der Bezüge bestimmt den Rhythmus der je eigenen Lektürebewegung durch die Bilderschrift des Ensembles. Das Wortbild »Augenstern« im Nahblick in den Schrein lese ich als Verweis auf das, was er hütet: Ein anderes Ausgangsobjekt des Ensembles: »Ein Foto - Anna O., Januar 1976, besonders unvorteilhaft, im Seitenprofil. Der Text auf der Rückseite des Schnappschußfotos, geschrieben mit blauem Filzstift, weist es als Geburtstagsgeschenk aus: 'Gutschein: Einen Tag machen, was Anna will! gez. Alex'. Erinnerungen an ferne Zeiten spezieller Mutter-Sohn Beziehungen werden wach...«(3).

Mitten in der Rekonstruktion sich kreuzender Lektürebewegungen muß ich hier einhalten, im Raum nebenan das schreiende Kind, das krank ist, das Kind, das meine Arbeits- und Wahrnehmungsformen so gründlich durcheinanderbringt, dessen Existenz wohl nicht unbeteiligt daran ist, daß die Mutter-Sohn-Beziehung mit Fotos und Zeichnungen weitere Facetten hinzugewonnen hat...

Anschließen könnte ich mit der Beschreibung einer Zeichnung, in der Annas Haar mit den Zweigen einer Weide ineinandergeblendet in eine Skizze von ihrem Sohn übergeht; ich könnte den gezielten Widerspruch in der Kombination von Schrein und »A.O. Porträthäßlich« aufnehmen (Anna: »der sentimentale Schmalz verlangt nach einem trockenen Brötchen«). Ich könnte seinen Variationen durch das Ensemble folgen, in denen es selbst als Ensembleteil neben dem Ausriß eines Traklzitats wiedergeben ist, das von der »blauen Höhle der Kindheit« spricht, und einen Exkurs über die Farbe Blau im allgemeinen einschieben, oder der Frage nachgehen, die die Aneignungsform des Blicks des anderen, des Sohns auf die Künstlerin aufwirft, wenn sie das Foto, das er gemacht hat, aufnimmt und variiert...Halt! rufen Sie, halt! Mit Recht. Wie kann es ein Text mit den Seh- und Lesebewegungen, die das Ensemble herausfordert, aufnehmen, wie kann er die Simultaneität in der räumlichen Präsenz aufnehmen, Schnitte, Sprünge nachvollziehen? Nichts scheint hoffnungsloser als das Unterfangen, sich von Motivdeutung zu Motivdeutung verbissen durch die Fülle des Materials zu arbeiten, obwohl die lange Beschäftigung mit dem Ensemble und die Gespräche mit Anna meinen Zettelkasten überquellen lassen.

Zurück zum Kaleidoskop also, das uns über die farbigen Scherben am Boden in den äußerten Winkel des Ensembles geführt hat, den Winkel, den die Seitenwände des Schreins bilden. Der in die Lattenwand neben ihm eingelassene Erker wiederholt ihn. Tritt man von der Rückseite an ihn heran, kann man die in ihm arrangierten Zeichnungen und Fotos zwischen dem rot und blau eingefärbten Glas durch Spiegelungen vervielfältigt sehen. Eingespiegelt wird aber auch, was sich vor dem Ensemble befindet und bewegt, ohne in die geschlossene Symmetrie des Kaleidoskopeffekts einzutreten. Was Anna zum Kaleidoskop notiert hat, hebt das als einen Punkt der Differenz hervor: »Öffnung des Systems durch Einwirkung anderer (Zufall) sind erlaubt und gewünscht.«

Auch die weiteren Punkte stellen keine Äquivalenz her, sondern markieren Unterschiede. Zu allererst: »Symmetrie ist verboten«. Symmetrie ist eine Ordnungsfigur, die immer auch ein Moment der Stasis enthält, den Blick arretiert, vielleicht auch heimlicher Garant ist für den gesicherten Überblick des Betrachters, der das - illusorische - Einheitsgefühl im Selbst stabilisiert.

»Zerstückeltes und Wiederholtes und neu Zusammengesetztes werden in einem Muster vereint, also wieder in eine geometrische Einheit gebracht.«, merkt Anna kritisch zum Kaleidoskop an. Während sie die Struktur der zerlegten Flächen und der Flächenschnitte interessiert, betont sie entschieden das Konzeptionelle ihrer Verwendung in der eigenen Arbeit. »Nicht der Spiegel, sondern mein Blick entscheidet über Schnittstelle, Vergrößerung, Verkleinerung, Veränderung der Proportionen.« Sie setzt das eigene Auge in die Position des Spiegels ein, den aktiven und reflexiven Blick, den das Ensemble von ihr wie von jedem anderen Betrachter verlangt. Bilder, die immer wieder einzelne Elemente des Ensembles in anderer Gruppierung vorstellen, zeigen diesen Blick bei der Arbeit. Während sich durchaus oft sagen läßt, welches Objekt den Status des Ausgangsobjekts hat, ja als solches durch die »Legende« zum Ensemble ausdrücklich genannt wird, werden Ableitungsfiguren, die eine zeitliche Folge zu rekonstruieren suchen, obsolet. Auf den Raum bezogen macht es wenig Sinn, die Simultanität der Objekte in Vor- und Nachbild, in »Original« und Reproduktion zu zerlegen. Ist das Foto das Original zur Zeichnung, die Zeichnung als Objekt unter Objekten das Original zu der übermalten Fotoleinwand, die den Ensembleausschnitt zeigt?

In der Figur, die das Kaleidoskop aus den Teilansichten der eingeschlossenen Objekte zusammensetzt, werden die gespiegelten Objekte selbst als Bild mitgezählt. Das Objekt erzeugt im rechten Spiegel ein Bild. Für den Spiegel links verhält sich diese Spiegelung wieder als Gegenstand. In diesem Hin und Her läßt sich der Status von Objekt und Bild, von Bild und Abbild nicht mehr fixieren. Eine Täuschung? Stehen Bilder, Kunst überhaupt, seit Platon nicht im Verdacht, bloß Trugbilder zu entwerfen?

»Beim Malen muß man die Idee des Wahren mit Hilfe des Falschen vermitteln (Degas)«, wird ebenso ins Ensemble zitiert wie Oskar Wildes Aufforderung, es gelte die verlorene Kunst des Lügens zu kultivieren. Im Patchwork der Zitate haben sie ihren gleichrangigen Auftritt zwischen anderen Reflexionspartikeln, die den Anspruch auf Wahrheit in Repräsentationssystemen überhaupt beleuchten. Ein Lyotard-Zitat, daß sie Anmaßung der Männer thematisiert, den Sinn zu konstituieren und das Wahre zu sagen (4), gerät selbst in den Strudel von Wahrheit und Täuschungen: Eine Besucherin insistiert, daß es von Luce Irigary sei. Anna streicht den einen Namen aus und ersetzt ihn, streicht den zweiten Namen auf meinen Einspruch wieder durch und setzt darunter wieder den ersten. Unter die Ausstreichungen setzt sie ein rotes Quadrat. Von der Operation, unter der sich Anna verletzt hat, bleiben ein paar Blutstropfen als Spur zurück. Das Zitat als Ausschnitt, Schnitt in den Text, aus dem es ein Stück abbildet und in einem anderen Kontext im Raum des Ensembles auftreten läßt, zieht von sich aus die Zuschreibung, die »Autorschaft« als Garant eines originären Ursprungs in Zweifel. Ebensowenig wie sich der Status von Bild und Abbild in der Division und Multiplikation dingfest machen läßt, läßt sich der der Zitate fixieren: Sie lösen sich in der Bilderschrift des Ensembles aus ihrer Zuschreibung.

Mitunter benutzt Anna die Schrift, um ein Bild zurückzunehmen, ja, das eigene Werk durch die Überschreibung fast zu löschen. Im Fall eines Tableaus, das einen Ausschnitt des Ensembles mit dem »Porträt A.O. - häßlich -« zeigt, ist die Widmung von der Rückseite über das Bild gelegt. Ins Bild tritt sein Revers, die Schrift, die Schrift des anderen als das Andere der Bilder, das sie überlagert, durchkreuzt, unterbricht.





(1) Anna Oppermann, Dilemma der Vermittlung. In: Karl-Hofer-Symposium: 1979 Grenzüberschreitungen, Berlin 1980, S. 42
(2) (vergl. dazu auch Einleitung, Anmerkung 2)
(3) Anna Oppermann in: Blau-Farbe der Feme, Heidelberger Kunstverein. (Kat.) 1990, S. 492. Eine Kopie der Seite ist in Kiel neben dem Ensemble ausgelegt.
(4) vergl. Schriftbild rechts vorn in Abb. 127



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