Ines Lindner: Paradoxe und andere Sprengsätze - Über transfigurative Strukturen in Anna Oppermanns Ensemble Paradoxe Intentionen,

in Katalog: "Paradoxe Intentionen (Das Blaue vom Himmel herunterlügen)", Hamburg und Brüssel, 1998, S. 24-31
Erstveröffentlichung 1994 in englischer Sprache unter: The Paradox and other Fuses. On transfigurative structures in Anna Oppermanns ensemble "Paradoxical Intentions", in: Faltblatt Paradoxical Intentions, Sydney
1994

Anna Oppermanns Ensembles wollen aus den unterschiedlichsten Perspektiven wahrgenommen werden. Das Wechselspiel von Texten, Bildern und Emblemen verhindert, daß man es sich bequem machen kann in der ästhetischen Distanz, aus der »das Ganze« zu überblicken wäre. Sich auf die rhythmische Struktur von Wiederholung, Ausschnitt, Vergrößerung, Verkleinerung, von Text und Bild einzulassen, verlangt Tanzschritte, Drehungen, halbe Kehrtwendungen: Wer sehen will, muß sich geradezu physisch auf die perspektivischen Rhythmen von nah und fern, Zeichnung und Schrift, Fotografie und Malerei einlassen. Das Arrangement der Teile an den Wänden und auf dem Boden, manchmal sogar an der Decke, erfordert einen immer neuen Wechsel der Betrachterposition. Jedes Anhalten, jedes Hierarchisieren ist eine kleine Lüge, die im Gemurmel eines Kommentars untergeht, mit dem die Facetten des Ensembles untereinander und mit dem Betrachter kommunizieren.
Das Ensemble bezieht seine Komplexität aus dem ironischen Spiel mit der sprichwörtlichen Wendung »Das Blaue vom Himmel herunterlügen«, die eine Zeitlang als Titel diente. Das »Blau« ist die Schlüsselfarbe des Ensembles, das »Lügen« gab den Anstoß zu Erkundungen des Paradoxen, die für Anna Oppermann so wichtig wurden, daß sie den jetzigen Titel »Paradoxe Intentionen« wählte. Das ironische Spiel von Wahrheit und Lüge zitiert das Modellparadox abendländischer Philosophie: »Wenn du sagst, daß du lügst und du sagst die Wahrheit, lügst du.«
Beschreibt es die Wahrheit der Lüge, die Lüge in der Wahrheit? Ein Paradox funktioniert nicht diskursiv. Es zeigt einen Riß im System der Referenzen. Das Paradox ist ein Phänomen, das die Grenzen der Bezugssysteme, in denen es auftritt, verkehrt und öffnet. »Wenn du sagst 'Hügel'«, unterbrach die Königin, »ich könnte dir Hügel zeigen, mit denen verglichen du diesen ein Tal nennen würdest« zitiert Anna Oppermann die Red Queen aus Lewis Carolls »Alice hinter den Spiegeln« in das Ensemble. Alices Einspruch, daß das Unsinn sei, kommentiert die Red Queen: »Du kannst das 'Unsinn' nennen, wenn du willst, aber ich habe Unsinn gehört, mit dem verglichen das so vernünftig ist wie ein Wörterbuch.« Während sie den Wahrheitsgehalt dieser Paradoxe zu ermitteln versucht, sieht Alice auf eine in rechteckige Felder unterteilte Landschaft hinunter. Die Red Queen nimmt sie dorthin mit und in das nächste Paradox: So schnell sie auch rennt, es gelingt ihr nicht, die Felder in gerader Linie zu durchqueren.
Obwohl die rechteckigen Bildformate an Wänden und am Boden des Ensembles meist schachbrettartig aneinander grenzen, wird der Betrachter bei der Durchquerung ihrer vermeintlich geometrischen Ordnung dieselben Schwierigkeiten haben wie Alice. Eingestreut am Boden finden sich blaue und rote Glasscherben, die einerseits ein fragmentiertes Echo auf das rote und blaue Glas des dreieckigen Schreins sind, der als Ausgangsobjekt des Ensembles gelten kann, zum anderen lassen sie sich zum Diagramm eines Kaleidoskops in Beziehung setzen, das auf einem großen Tableau augenfällig in vorderster Reihe ausgelegt ist.
Ausgehend von den Elementen Farbigkeit, Glas, Spiegelung, von der Struktur des Zerlegens und Wiederholens, hat Anna Oppermann in einer ihre Arbeit begleitenden und in sie eingreifenden Reflexionsbewegung den Begriff Kaleidoskop für sich ausprobiert. Dieses Vorgehen ist charakteristisch für ihre ästhetische Praxis: Sie integriert die Reflexion eines Prozesses mit den jeweiligen Ergebnissen. Dadurch entstehen neue Ebenen der Wahrnehmung. Sie bereichern das Ensemble in einem unendlichen Prozeß, da die Präsentation eines Ensembles immer nur eine Station des »work in progress« war.
Wie die Bilder des Kaleidoskops, sind Anna Oppermanns Ensembles nie endgültig, sondern immer offen für neue Konstellationen. Die Künstlerin hat durch Änderungen im Arrangement und die Hinzufügung neuer Stücke nicht allein auf die Differenzierung des Konzepts reagiert. Es wurden auch andere Umstände und Umgebungen in die jeweilige Ausstellungssituation mit einbezogen.
Die wechselnden Bilder des Kaleidoskops entstehen durch Bewegungen, die die Konstellation der eingeschlossenen Objekte ändern. Sie rotieren zwischen im spitzen Winkel zueinander gesetzten Spiegeln, an die durchsichtiges und mattes Glas angrenzt. Die Konstruktion sorgt für die prismatische Zerlegung der eingeschlossenen Objekte. Für den Betrachter ergänzen sich Objekte und ihre Teilansichten zu einem symmetrischen Muster, dem »schönen Bild« (Kaleidoskop = Schönbildschauer). Die Grundelemente des Kaleidoskops finden sich in dem dreieckigen Glasschrein mit den rot- und blaufarbigen Scheiben. In ihm werden die Reflexe, darunter die seines farbigen Glases, nach dem Spiegelgesetz zerlegt und vervielfältigt. Der Nahblick in den Schrein kehrt in Zeichnungen und auf Leinwänden wieder. Er wird selbst in den Prozeß der Zerlegung und Vervielfältigung gezogen, der für Anna Oppermanns Ensembles charakteristisch ist. Da das Kaleidoskop nicht bloß Motiv ist, sondern Modell für eine reflexive Struktur, will ich seine Figur noch ein wenig weiter verfolgen. Das blaue und rote Glas des Schreins wie auch die Fotografien und Zeichnungen, die in ihm arrangiert sind, werden durch die eingelassenen Spiegel gebrochen und vervielfältigt. Eingespiegelt wird aber auch, was sich vor dem Ensemble befindet und bewegt, ohne daß es in die geschlossene Symmetrie des Kaleidoskopeffekts eintritt. Anna Oppermann hat in Notizen den Vergleich zwischen dem Kaleidoskop und ihrer ästhetischen Praxis zusammengefaßt, dabei aber einen Punkt der Differenz hervorgehoben: »Öffnung des Systems durch Einwirkung anderer (Zufall) sind erlaubt und gewünscht.«(1)
Auch andere Gedanken, die in diesem Zusammenhang notiert wurden, stellen keine Äquivalenz her, sondern markieren Unterschiede. Zu allererst: »Symmetrie ist verboten«. Symmetrie ist eine Ordnungsfigur, die immer auch ein Moment der Stasis enthält, den Blick arretiert, vielleicht auch heimlicher Garant ist für den gesicherten Überblick des Betrachters, der das - illusorische - Einheitsgefühl im Selbst stabilisiert. »Zerstückeltes und Wiederholtes und neu Zusammengesetztes werden in einem Muster vereint, also wieder in eine geometrische Einheit gebracht«, merkt die Künstlerin kritisch zum Kaleidoskop an. Während sie die Dekonstruktion von Flächen durch ihre Brechung, ihre Wiederholung und Vervielfältigung interessiert, betont sie entschieden das Konzeptionelle ihrer Verwendung in der eigenen Arbeit. »Nicht der Spiegel, sondern mein Blick entscheidet über Schnittstelle, Vergrößerung, Verkleinerung, Veränderung der Proportionen.«
Sie setzt das eigene Auge in die Position des Spiegels ein, den aktiven und reflexiven Blick, den das Ensemble von ihr wie von jedem anderen Betrachter verlangt. Bilder, die immer wieder einzelne Elemente des Ensembles in anderer Gruppierung vorstellen, zeigen diesen Blick bei der Arbeit. Doch der Versuch, sie chronologisch zurückzuverfolgen, hat mit ihrer nicht-temporalen Gleichzeitigkeit zu rechnen. Während sich durchaus oft sehen läßt, welches Objekt den Status eines Ausgangsobjekts hat, ja als solches durch die »Legende« zum Ensemble ausdrücklich ausgewiesen ist, werden Ableitungsfiguren, die eine zeitliche Folge zu rekonstruieren suchen, obsolet. Auf den Raum bezogen macht es wenig Sinn, die Simultanität der Objekte in Vor- und Nachbild, in »Orginal« und Reproduktion zu zerlegen.
Ist das Foto das Orginal zur Zeichnung, die Zeichnung als Objekt unter Objekten das Orginal zu der übermalten Fotoleinwand, die den Ensembleausschnitt zeigt? In der Figur, die das Kaleidoskop aus den Teilansichten der eingeschlossenen Objekte zusammensetzt, werden die gespiegelten Objekte selbst als Bild mitgezählt. Das Objekt erzeugt im rechten Spiegel ein Bild. Für den Spiegel links verhält sich diese Spiegelung wieder als Gegenstand. In diesem Hin und Her läßt sich der Status von Objekt und Bild, von Bild und Abbild nicht mehr fixieren. Eine Täuschung? Stehen Bilder, Kunst überhaupt, seit Platon nicht im Verdacht, bloß Trugbilder zu geben?
»Beim Malen muß man die Idee des Wahren mit Hilfe des Falschen vermitteln (Degas)«, wird ebenso ins Ensemble zitiert wie Oskar Wildes Aufforderung, es gelte die verlorene Kunst des Lügens zu kultivieren. Im Patchwork der Zitate haben sie ihren gleichrangigen Auftritt zwischen anderen Reflexionspartikeln, die den Anspruch auf Wahrheit in Repräsentationssystemen überhaupt beleuchten.
Ein Lyotard-Zitat, das die Anmaßung der Männer thematisiert, den Sinn zu konstituieren und das Wahre zu sagen, gerät selbst in den Strudel von Wahrheit und Täuschungen: Eine Besucherin insistiert vor der Eröffnung in Kiel ,(2) daß es von Luce Irigaray sei. Die Künstlerin streicht den einen Namen aus und ersetzt ihn, streicht den zweiten Namen auf meinen Einspruch wieder durch und setzt darunter wieder den ersten. Unter die Ausstreichungen setzt sie ein rotes Quadrat - als ob sie beides, die Schrift und die Überschreibung, betonen wollte. Von der Operation, bei der sich Anna Oppermann verletzt hat, bleiben ein paar Blutstropfen als Spur zurück. Das Zitat als Ausschnitt, Schnitt in den Text, aus dem es ein Stück abbildet und in einem anderen Kontext im Raum des Ensembles auftreten läßt, zieht von sich aus die Zuschreibung, die »Autorschaft« als Garant eines orginären Ursprungs in Zweifel. Ebensowenig wie sich der Status von Bild und Abbild in der Division und Multiplikation dingfest machen läßt, läßt sich der der Zitate fixieren: Sie lösen sich in der Bilderschrift des Ensembles aus ihrer Zuschreibung. Sie flottieren frei und lösen sich in andere Paradoxe und nicht-diskursive Komplexitäten.
Die Schrift zwingt den Bildern keine Bedeutung auf. Sie stellt Dyssymmetrien an dem Ort her, an dem sie auftritt. So ist sie Bestandteil des Projekts, mit dem die Künstlerin in ihren Ensembles versucht hat, einen mehrdimensionalen Raum für die Wahrnehmung zu erschließen. Mitunter benutzt die Künstlerin Schrift, um ein Bild zurückzunehmen, ja, das eigene Werk durch die Überschreibung fast zu löschen. Im Fall eines Tableaus, das einen Ausschnitt des Ensembles mit dem »A.O. - Porträt - häßlich« zeigt, ist die Widmung von der Rückseite über das Bild gelegt. Ins Bild tritt sein Revers, die Schrift - des anderen als das Andere der Bilder -, die es überlagert, durchkreuzt, unterbricht.

Anmerkungen
(1) Während unserer Zusammenarbeit tauschten Anna Oppermann und ich Texte und Materialien. Die Notizen waren ein Teil dieses Austausches.
(2) Stadtgalerie im Sophienhof, Kiel als Teil der Ausstellung »Ich bin nicht ich wenn ich sehe« 21.4. bis 26.5. 1991. Zu dieser Ausstellung erschien der von Theresa Georgen, Silke Radenhausen und mir herausgegebene Band »Ich bin nicht ich wenn ich sehe.« Dialoge - ästhetische Praxis in Kunst und Wissenschaft von Frauen, Berlin, 1991, dem der hier abgedruckte Text - in gekürzter Form - entnommen ist. Das Buch reflektiert einen Dialogprozeß zwischen sieben Künstlerinnen und Kritikerinnen, die ein Jahr zusammen arbeiteten. Der Zeitrahmen eröffnete nicht nur Möglichkeiten für einen werkspezifischen Austausch. Ziel war es, die Überschneidungen und Widersprüche der unterschiedlichen ästhetischen Praxis von Künstlerinnen und Kunstwissenschaftlerinnen aus feministischer Perspektive zu untersuchen.


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