Das Ensemble bezieht seine Komplexität aus dem ironischen Spiel
mit der sprichwörtlichen Wendung »Das Blaue vom Himmel herunterlügen«,
die eine Zeitlang als Titel diente. Das »Blau« ist die Schlüsselfarbe
des Ensembles, das »Lügen« gab den Anstoß zu Erkundungen des Paradoxen,
die für Anna Oppermann so wichtig wurden, daß sie den jetzigen
Titel »Paradoxe Intentionen« wählte. Das ironische Spiel von Wahrheit
und Lüge zitiert das Modellparadox abendländischer Philosophie:
»Wenn du sagst, daß du lügst und du sagst die Wahrheit, lügst
du.«
Beschreibt es die Wahrheit der Lüge, die Lüge in der Wahrheit?
Ein Paradox funktioniert nicht diskursiv. Es zeigt einen Riß im
System der Referenzen. Das Paradox ist ein Phänomen, das die Grenzen
der Bezugssysteme, in denen es auftritt, verkehrt und öffnet.
»Wenn du sagst 'Hügel'«, unterbrach die Königin, »ich könnte dir
Hügel zeigen, mit denen verglichen du diesen ein Tal nennen würdest«
zitiert Anna Oppermann die Red Queen aus Lewis Carolls »Alice
hinter den Spiegeln« in das Ensemble. Alices Einspruch, daß das
Unsinn sei, kommentiert die Red Queen: »Du kannst das 'Unsinn'
nennen, wenn du willst, aber ich habe Unsinn gehört, mit dem verglichen
das so vernünftig ist wie ein Wörterbuch.« Während sie den Wahrheitsgehalt
dieser Paradoxe zu ermitteln versucht, sieht Alice auf eine in
rechteckige Felder unterteilte Landschaft hinunter. Die Red Queen
nimmt sie dorthin mit und in das nächste Paradox: So schnell sie
auch rennt, es gelingt ihr nicht, die Felder in gerader Linie
zu durchqueren.
Obwohl die rechteckigen Bildformate an Wänden und am Boden des
Ensembles meist schachbrettartig aneinander grenzen, wird der
Betrachter bei der Durchquerung ihrer vermeintlich geometrischen
Ordnung dieselben Schwierigkeiten haben wie Alice. Eingestreut
am Boden finden sich blaue und rote Glasscherben, die einerseits
ein fragmentiertes Echo auf das rote und blaue Glas des dreieckigen
Schreins sind, der als Ausgangsobjekt des Ensembles gelten kann,
zum anderen lassen sie sich zum Diagramm eines Kaleidoskops in
Beziehung setzen, das auf einem großen Tableau augenfällig in
vorderster Reihe ausgelegt ist.
Ausgehend von den Elementen Farbigkeit, Glas, Spiegelung, von
der Struktur des Zerlegens und Wiederholens, hat Anna Oppermann
in einer ihre Arbeit begleitenden und in sie eingreifenden Reflexionsbewegung
den Begriff Kaleidoskop für sich ausprobiert. Dieses Vorgehen
ist charakteristisch für ihre ästhetische Praxis: Sie integriert
die Reflexion eines Prozesses mit den jeweiligen Ergebnissen.
Dadurch entstehen neue Ebenen der Wahrnehmung. Sie bereichern
das Ensemble in einem unendlichen Prozeß, da die Präsentation
eines Ensembles immer nur eine Station des »work in progress«
war.
Wie die Bilder des Kaleidoskops, sind Anna Oppermanns Ensembles
nie endgültig, sondern immer offen für neue Konstellationen. Die
Künstlerin hat durch Änderungen im Arrangement und die Hinzufügung
neuer Stücke nicht allein auf die Differenzierung des Konzepts
reagiert. Es wurden auch andere Umstände und Umgebungen in die
jeweilige Ausstellungssituation mit einbezogen.
Die wechselnden Bilder des Kaleidoskops entstehen durch Bewegungen,
die die Konstellation der eingeschlossenen Objekte ändern. Sie
rotieren zwischen im spitzen Winkel zueinander gesetzten Spiegeln,
an die durchsichtiges und mattes Glas angrenzt. Die Konstruktion
sorgt für die prismatische Zerlegung der eingeschlossenen Objekte.
Für den Betrachter ergänzen sich Objekte und ihre Teilansichten
zu einem symmetrischen Muster, dem »schönen Bild« (Kaleidoskop
= Schönbildschauer). Die Grundelemente des Kaleidoskops finden
sich in dem dreieckigen Glasschrein mit den rot- und blaufarbigen
Scheiben. In ihm werden die Reflexe, darunter die seines farbigen
Glases, nach dem Spiegelgesetz zerlegt und vervielfältigt. Der
Nahblick in den Schrein kehrt in Zeichnungen und auf Leinwänden
wieder. Er wird selbst in den Prozeß der Zerlegung und Vervielfältigung
gezogen, der für Anna Oppermanns Ensembles charakteristisch ist.
Da das Kaleidoskop nicht bloß Motiv ist, sondern Modell für eine
reflexive Struktur, will ich seine Figur noch ein wenig weiter
verfolgen. Das blaue und rote Glas des Schreins wie auch die Fotografien
und Zeichnungen, die in ihm arrangiert sind, werden durch die
eingelassenen Spiegel gebrochen und vervielfältigt. Eingespiegelt
wird aber auch, was sich vor dem Ensemble befindet und bewegt,
ohne daß es in die geschlossene Symmetrie des Kaleidoskopeffekts
eintritt. Anna Oppermann hat in Notizen den Vergleich zwischen
dem Kaleidoskop und ihrer ästhetischen Praxis zusammengefaßt,
dabei aber einen Punkt der Differenz hervorgehoben: »Öffnung des
Systems durch Einwirkung anderer (Zufall) sind erlaubt und gewünscht.«(1)
Auch andere Gedanken, die in diesem Zusammenhang notiert wurden,
stellen keine Äquivalenz her, sondern markieren Unterschiede.
Zu allererst: »Symmetrie ist verboten«. Symmetrie ist eine Ordnungsfigur,
die immer auch ein Moment der Stasis enthält, den Blick arretiert,
vielleicht auch heimlicher Garant ist für den gesicherten Überblick
des Betrachters, der das - illusorische - Einheitsgefühl im Selbst
stabilisiert. »Zerstückeltes und Wiederholtes und neu Zusammengesetztes
werden in einem Muster vereint, also wieder in eine geometrische
Einheit gebracht«, merkt die Künstlerin kritisch zum Kaleidoskop
an. Während sie die Dekonstruktion von Flächen durch ihre Brechung,
ihre Wiederholung und Vervielfältigung interessiert, betont sie
entschieden das Konzeptionelle ihrer Verwendung in der eigenen
Arbeit. »Nicht der Spiegel, sondern mein Blick entscheidet über
Schnittstelle, Vergrößerung, Verkleinerung, Veränderung der Proportionen.«
Sie setzt das eigene Auge in die Position des Spiegels ein, den
aktiven und reflexiven Blick, den das Ensemble von ihr wie von
jedem anderen Betrachter verlangt. Bilder, die immer wieder einzelne
Elemente des Ensembles in anderer Gruppierung vorstellen, zeigen
diesen Blick bei der Arbeit. Doch der Versuch, sie chronologisch
zurückzuverfolgen, hat mit ihrer nicht-temporalen Gleichzeitigkeit
zu rechnen. Während sich durchaus oft sehen läßt, welches Objekt
den Status eines Ausgangsobjekts hat, ja als solches durch die
»Legende« zum Ensemble ausdrücklich ausgewiesen ist, werden Ableitungsfiguren,
die eine zeitliche Folge zu rekonstruieren suchen, obsolet. Auf
den Raum bezogen macht es wenig Sinn, die Simultanität der Objekte
in Vor- und Nachbild, in »Orginal« und Reproduktion zu zerlegen.
Ist das Foto das Orginal zur Zeichnung, die Zeichnung als Objekt
unter Objekten das Orginal zu der übermalten Fotoleinwand, die
den Ensembleausschnitt zeigt? In der Figur, die das Kaleidoskop
aus den Teilansichten der eingeschlossenen Objekte zusammensetzt,
werden die gespiegelten Objekte selbst als Bild mitgezählt. Das
Objekt erzeugt im rechten Spiegel ein Bild. Für den Spiegel links
verhält sich diese Spiegelung wieder als Gegenstand. In diesem
Hin und Her läßt sich der Status von Objekt und Bild, von Bild
und Abbild nicht mehr fixieren. Eine Täuschung? Stehen Bilder,
Kunst überhaupt, seit Platon nicht im Verdacht, bloß Trugbilder
zu geben?
»Beim Malen muß man die Idee des Wahren mit Hilfe des Falschen
vermitteln (Degas)«, wird ebenso ins Ensemble zitiert wie Oskar
Wildes Aufforderung, es gelte die verlorene Kunst des Lügens zu
kultivieren. Im Patchwork der Zitate haben sie ihren gleichrangigen
Auftritt zwischen anderen Reflexionspartikeln, die den Anspruch
auf Wahrheit in Repräsentationssystemen überhaupt beleuchten.
Ein Lyotard-Zitat, das die Anmaßung der Männer thematisiert, den
Sinn zu konstituieren und das Wahre zu sagen, gerät selbst in
den Strudel von Wahrheit und Täuschungen: Eine Besucherin insistiert
vor der Eröffnung in Kiel ,(2) daß es von Luce Irigaray sei. Die Künstlerin streicht den
einen Namen aus und ersetzt ihn, streicht den zweiten Namen auf
meinen Einspruch wieder durch und setzt darunter wieder den ersten.
Unter die Ausstreichungen setzt sie ein rotes Quadrat - als ob
sie beides, die Schrift und die Überschreibung, betonen wollte.
Von der Operation, bei der sich Anna Oppermann verletzt hat, bleiben
ein paar Blutstropfen als Spur zurück. Das Zitat als Ausschnitt,
Schnitt in den Text, aus dem es ein Stück abbildet und in einem
anderen Kontext im Raum des Ensembles auftreten läßt, zieht von
sich aus die Zuschreibung, die »Autorschaft« als Garant eines
orginären Ursprungs in Zweifel. Ebensowenig wie sich der Status
von Bild und Abbild in der Division und Multiplikation dingfest
machen läßt, läßt sich der der Zitate fixieren: Sie lösen sich
in der Bilderschrift des Ensembles aus ihrer Zuschreibung. Sie
flottieren frei und lösen sich in andere Paradoxe und nicht-diskursive
Komplexitäten.
Die Schrift zwingt den Bildern keine Bedeutung auf. Sie stellt
Dyssymmetrien an dem Ort her, an dem sie auftritt. So ist sie
Bestandteil des Projekts, mit dem die Künstlerin in ihren Ensembles
versucht hat, einen mehrdimensionalen Raum für die Wahrnehmung
zu erschließen. Mitunter benutzt die Künstlerin Schrift, um ein
Bild zurückzunehmen, ja, das eigene Werk durch die Überschreibung
fast zu löschen. Im Fall eines Tableaus, das einen Ausschnitt
des Ensembles mit dem »A.O. - Porträt - häßlich« zeigt, ist die
Widmung von der Rückseite über das Bild gelegt. Ins Bild tritt
sein Revers, die Schrift - des anderen als das Andere der Bilder
-, die es überlagert, durchkreuzt, unterbricht.
Anmerkungen
(1) Während unserer Zusammenarbeit tauschten Anna Oppermann und
ich Texte und Materialien. Die Notizen waren ein Teil dieses Austausches.
(2) Stadtgalerie im Sophienhof, Kiel als Teil der Ausstellung
»Ich bin nicht ich wenn ich sehe« 21.4. bis 26.5. 1991. Zu dieser
Ausstellung erschien der von Theresa Georgen, Silke Radenhausen
und mir herausgegebene Band »Ich bin nicht ich wenn ich sehe.«
Dialoge - ästhetische Praxis in Kunst und Wissenschaft von Frauen,
Berlin, 1991, dem der hier abgedruckte Text - in gekürzter Form
- entnommen ist. Das Buch reflektiert einen Dialogprozeß zwischen
sieben Künstlerinnen und Kritikerinnen, die ein Jahr zusammen
arbeiteten. Der Zeitrahmen eröffnete nicht nur Möglichkeiten für
einen werkspezifischen Austausch. Ziel war es, die Überschneidungen
und Widersprüche der unterschiedlichen ästhetischen Praxis von
Künstlerinnen und Kunstwissenschaftlerinnen aus feministischer
Perspektive zu untersuchen.
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