Anna Oppermann: Lebensprozeß und künstlerisches Vorgehen -- Wodurch wird mein Leben strukturiert ?

in: Kunst und Unterricht, Heft 100, März 1986, S. 50 (überarbeitet in: Detlef Bluemler und Lothar Romain (Hrg.), Anna Oppermann, Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst Ausgabe 8, München 1989, S. 15 und in: Anna Oppermann Pathosgeste - MGSMO- Installation im Altonaer Rathaus, Hamburg und Brüssel 1991, o. S.)

Grob Vereinfachend gesagt: erstens durch Lustgewinn, zweitens Konfliktvermeidung, drittens durch Entscheidungszwänge unter anderem im Hinblick auf erstens und zweitens. (Dies nicht nur mit Interesse für mein eigenes Leben, sondern auch für das anderer Menschen.)

Neben anderem dient meine künstlerische Methode dazu, mir dies zu erleichtern als auch dem Betrachter meiner Arbeiten es zu vermitteln. Ansonsten gilt:
Leben = Anpassung so wenig wie möglich
Kunst = Anpassung so viel wie nötig

Kunst zu machen ist zwar nicht nur mein "Paradiesgarten", aber doch weitgehend lustbetontes Tun. Nicht uneingeschränkt paßt das Freud-Zitat "Kunstwerke sind Phantasiebefriedigungen unbewußter Wünsche, ganz wie Träume, mit denen sie auch den Charakter des Kompromisses gemein haben, denn auch sie müssen den offenen Konflikt mit den Mächten der Verdrängung vermeiden". Dem Konflikt mit den Mächten der Verdrängung versuche ich mich zu stellen -- mit Neugier/Lust. Jedoch Entscheidungsfindung, Beurteilung, Bewertung haben die Komplexität von Kunst/Leben sinnlich und kognitiv erfahrbar zu machen.
Dies kann immer nur partiell und mit dem Bewußtsein der "Unzulänglichkeit" geleistet werden. Aus dieser "Unzulänglichkeit" hat sich vor allem meine künstlerische Arbeitsmethode entwickelt. Es fing an mit dem konventionellen Vorhaben, mit Hilfe des aufgebauten Stillebens ein Bild zu finden. Nach dem Stilleben habe ich Zeichnungen gemacht, Kompositionsskizzen. Nach Fertigstellung des Bildes blieb das Bild neben dem Stilleben stehen, auch persönliche Notizen, Skizzen, das Zitat aus einem Buch, in dem ich gerade las, kamen hinzu. Ich wollte mich nicht entscheiden, was im Hinblick auf die Aussage als besser gelungen oder wichtiger zu beurteilen sei: das reale Objekt, die Skizze oder gedankliche Auseinandersetzung, oder das fertiggestellte Bild. Jedes Teil hatte etwas, was dem anderen Teil fehlte (vgl. hierzu ausführlicher meine Darstellung über die Entstehung der Methode im Katalog A. O. Ensembles 1968 bis 1984 Brüssel und Hamburg 1984, S. 59).

Die verschiedenen Erkenntnisebenen wurden als Aussage nebeneinander akzeptiert, da dadurch das Ensemblearrangement Korrekturen, Modifikationen erlaubte -- zumal Denkklischees aufgebrochen werden konnten durch spielerische Konfrontation mit nicht gewohnten Kombinationen von Bild-Text-Inhalten, Zuständen und Objekten (Stichwort: um die Ecke denken). Wichtig dabei ist das Foto, das das offene Arrangement im Sinne des eher konventionellen Bildanspruchs in die Fläche transponiert, und hinzugefügt wird. Ein weiteres (nicht nur im Sinne der Vermittlung ), konstitutives Element des Ensembles ist das Diagramm über die künstlerische Methode. Auf ihm sind alle bisher erwähnten Teile des Arrangements in ihrer theoretischen Bedeutungszuschreibung auf den verschiedenen Ebenen zusammengestellt und der reagierende und reflektierende Künstler einbezogen.

Für mich folgte daraus, daß die offene Form des Ensembles unter anderem Allegorie für die allgemeine Unzulänglichkeit ist, dem bei der Beurteilung des Objekts theoretisch bestehenden Anspruch gerecht zu werden, alle Aspekte, z. B. den jeweiligen Wissensstand verschiedener Fachrichtungen zu berücksichtigen.

Es dürfte deutlich geworden sein, daß meine künstlerische Arbeitsmethode durchaus Ähnlichkeiten mit den in den Raum transportierten Collagen von Kurt Schwitters hat, vor allem in seinem MERZ Bau -- aber auch, daß die grundsätzlichen Unterschiede überwiegen. Hinzu kommt: während Schwitters im MERZ-Bau Erinnerungsstücke, Fundstücke, Objekte räumlich arrangiert, die dort ihren unveränderbaren Platz haben und auch durch andere Gegenstände verdeckt oder endgültig zugedeckt werden können, sind meine Arrangements von Gegenständen im Hinblick auf den Bedeutungszusammenhang und die thematische Eingrenzung grundsätzlich offen, veränder- und ergänzbar. Assoziationen und Reaktionen auf Gefundenes, Erlebtes werden ständig einbezogen , wie durch Konzentration durch Zusammenfassungen im Foto ehemals herausgehobene Gegenstände wieder im Ensemble zurücktreten können. D. h. Offenes wie auch Geschlossenes sind Bestandteil des Ensembles als "offenes Kunstwerk".

In meinen Ensembles werden die verschiedenen Erkenntnisebenen in ihrer Aussage nebeneinander akzeptiert. Die Offenheit des Arrangements erlaubt dabei Korrekturen und Modifikationen -- zumal Denkklischees aufgebrochen werden können durch spielerische Konfrontationen mit nicht gewohnten Bild-Text-lnhalten, Zuständen und Objekten.

Wichtig für den Erkenntnisprozeß ist das Foto, da es alles im Raum offen Arrangierte im Sinne des eher konventionellen Bildanspruchs in die Fläche transponiert und so eine Distanz von Macher und Betrachter gegenüber dem Ensemble möglich wird.

Ein weiteres, nicht nur im Sinne der Vermittlung, konstitutives Element des Ensembles ist das Diagramm über die künstlerische Methode (siehe Abbildungen auf den Seiten 12 und 13). In ihm sind alle Teile des Arrangements in ihrer theoretischen Bedeutungszuschreibung im Hinblick auf unterschiedliche Bewußtseinsstufen und Erkenntnisebenen zusammengestellt. Der reagierende und reflektierende Künstler ist ein Faktor von vielen in diesem offenen System. Einige Begriffe aus der Systemtheorie, die auch zur Beschreibung von Phänomenen der "Kybernetik" Verwendung finden, wie Ganzheit, Wandlung, Rückkoppelung, Kalibrierung, Homöostasis, können für das Verständnis der Methode, wie auch der künstlerischen Ausdrucksform, hilfreich sein.

Zum Schluß ein Zitat von Goethe: »Die Manifestation der Idee des Schönen ist ebenso flüchtig wie die Manifestation des Erhabenen, des Geistreichen, des Lustigen, des Lächerlichen. Dies ist die Ursache, warum darüber so schwer zu reden ist.«


[die farblich gekennzeichneten Textpassagen stehen für die beiden alternativ zu lesenden Textvarianten:
rot (1986), gelb (1989 bzw. 1991)]


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