Anna Oppermann: Pathosgeste

I. in the catalog: documenta 8, Vol. 2, Kassel 1987, pp. 182-183

II. also in reworked and expanded version in: Anna Oppermann Pathosgeste -- MGSMO -- Installation im Altonaer Rathaus, Hamburg and Brussels, 1991

I.


Ensemble 1984 bis 1987 (Der Mensch und das "mehr")

Bezugspflanze: Tulpe

Bezugsensembles: "MKÜVO (Mach kleine überschaubare, verkäufliche Objekte!)" und der "Ökonomische Aspekt"

Im Zentrum befindet sich ein von einer Seite einsehbares und oben offenes Gehäuse (ca. 2,50 x 2,00 x 2,00 m), rechts davon eine alles überragende 3,50 m hohe Menschenfigur, wie zum Sprung ansetzend, mit ausladender Geste, ohne Hände und Füße, Gesicht konturlos, die Illusion von Körpervolumen abbildend. Diese Menschenfigur (seit 1979 im Ensemble "Anders sein" in Drohgebärde erscheinend) taucht in der "Pathosgeste" als Hauptmotiv in verschiedenen Variationen, Größen und Kontexten auf: Als Foto, gezeichnet, als Schablone, in Öl gemalt, als Negativform, liegend, stehend, vor allem als überlebensgroßer Durchblick in das Innere des Gehäuses, in dem sich auf einem Podest u. a. die Objekte des ersten Zustands des Ensembles befinden. Diese sind ein von der Rückseite sichtbarer mit Leinwand bespannter Keilrahmen (0,35 x 0,35 m), ein Tulpenblütenblatt, der Gestenmensch (aus einem Foto ausgeschnitten, 0,18 m hoch), zwei Skizzen (die sich wichtigmachende Erzählgeste (0,40 x 0,40 m) und die Verkäufergeste aus dem "Ökonomischen Aspekt" (0,60 x 0,60 m), sowie ein Zeitungsausriß mit einem Textfragment über ein Seminar, in welchem die Gelderwerbslust der Teilnehmer evoziert werden solI.

Anlaß für das Ensemble war das Vorhaben, ein kleines überschaubares, verkäufliches Objekt zu schaffen (wie immer wurde daraus ein großes, eher schwer verkäufliches). Das hier abgebildete Foto wird als Großtableau (Format ca. 2,00 x 2,50 m) außerhalb des Gehäuses zusammen mit dem alles überragenden Gestenmenschen Blickfang sein. Im Inneren wird sich das Kleinteilige, Differenzierte zum Thema befinden. Außen (Oberfläche): das Laute/Monumentale, das Polemische, das Pathetische, die Droh- oder Macht/Kampfgebärde, das Simplifizierende; Innen (Tiefe): das Stille, das Gefährdete/Schützenswerte, das Komplizierte, das Intime. Erster und grober Deutungsversuch des Ensembles. Außerdem werden im Ensemble Zitate über Zeitgeist, Pathos, Postmoderne und Reaktionen darauf enthalten sein. "Weit entfernt von der Banalität des Bösen, erzeugt die Banalität des Hochtrabenden jene Sprechblasen, die jeder versteht, erkennt oder anerkennt, eben weil sie als leere Hülsen von jedermann mit jedem beliebigen Inhalt gefüllt und damit erfüllt und erfühlt werden können. Das vieldeutig Nichtssagende ist keine Entgleisung, sondern Programm, sei dies nun naiv intuitiv oder bewußt kalkuliert (oder beides), die Inhaltslosigkeit der Phrase ist ihr wahrer Inhalt, ihr Zweck und das Geheimnis ihrer Wirkung". (Friedrich Hacker, Wir und das Wirgefühl)



II.


Das Ensemble "Pathosgeste" ist 1984-1987 entstanden und wurde auf der documcnta 8 im Sommer 1987 im Fridericianum in Kassel erstmals präsentiert. Es bezieht sich auf ein früheres Ensemble "Der ökonomische Aspekt", das sich kritisch mit den Anforderungen an Künstler auseinander setzt, handelbare Kunstobjekte zu fertigen (Mach kleine, überschaubare, verkäufliche Objekte -- MKÜVO). (Ein Teil dieses Ensembles Die Fensterecke , 1984, ist in der Kunsthalle Hamburg zu sehen). Die "Pathosgeste" überträgt und erweitert die Forderung nach Kunst, die sich verkaufen läßt, ironisch auf die derzeitige Kunstsituation (Mach große, schlagkräftige, machtdemonstrierende Objekte -- MGSMO).

Im Zentrum der "Pathosgeste" steht eine menschliche Figur mit erhobenem Arm, der als drohend, verkündend oder anpreisend gedeutet werden kann. Die Figur wird in verschiedener Größe, in Positiv- oder Negativform, als Holzobjekt oder gezeichnet, gemalt, photographiert dargestellt und in unterschiedliche Kontexte gebracht. Hieraus ergibt sich u. a. die Themenvielfalt des Ensembles. Der Kontext kann durch die Perspektive, die Darstellungsform -- den Duktus --, das Material, den Größenumfang, den engeren und weiteren Umraum, sowie durch Textzitate verändert werden. Diese beziehen sich auf Pathos, Suggestion, Manipulation, Geld-Macht-Beziehungen, Überzeugungs-, Werbe- und Verkaufsstrategien, Zeitgeist, Postmoderne, Verpackung, "den schönen Schein" ... Der Aspekt Verpackung selbst ist konkret im Objektkasten, den beiden Holzfiguren und in der Wahl des Raums im Altonaer Rathaus realisiert aber auch als Metapher für pathetisch aufhereitete Inhalte gemeint. Der Umraum "Rathaus" ist dabei angemessen prätentiös durch den materialkostbaren Stuck und Dekor, die großzügigen Raumproportionen und das architektonische Stilgemisch.

Der Betrachter des Ensembles erhält die Möglichkeit, Assoziationen aus den unterschiedlichen Bild-Text-Kombinationen zu bilden. Im "Pathos-Raum" stehend ergeben sich für ihn auch Bezüge zur imperialen Pose des Kaiser Wilhelm I zu Pferde, dem Gedenkraum für die im 1. und 2. Weltkrieg gefallenen Mitarbeiter der Stadtverwaltung und dem Monument von Sol LeWitt für die zerstörte jüdische Gemeinde Altonas, aber auch zu der vom Haus selbst ausgehenden so wie durch die Denkmale symbolisierten Staatsmacht/Staatsgewalt. Zitat: Da die Phänomene nicht mehr im konsequenten Determinismus miteinander verkettet sind, obliegt es dem Betrachter, sich bewußt in ein Netz unerschöpfbarer Relationen zu stellen, sozusagen selbst den Grad seiner Annäherung, seine Orientierungspunkte, seine Bezugsskala zu bestimmen (Henri Pousseur).

Ich möchte den Betrachter, aber auch mich selbst, immer wieder an den Ursprung eines Ensembles erinnern. Hier ergab er sich aus einem kleinen Stilleben, bestehend aus einem mit Leinwand bespannten Holzrahmen (30x30x30cm), einem Tulpenblütenblatt und dem unscharfen Photo einer menschlichen Gestalt. Die ersten Zustände sind auf den beiden Photoleinwänden im Inneren des Objektkastens dokumentiert. Auch die Tischplatte und der Fußboden im Inneren des Kastens erinnern an eine Situation, in der das Ensemble noch vergleichsweise schlicht und unprätentiös war. In der Ecke auf der Tischplatte steht ein erstes Modell des Objektkastens, umgeben von Zeichnungen aus der Meditationsphase, Konzeptskizzen, Assoziationen und Textzitaten; Beispiele vielfältiger Darstellungsformen eines Objektes. Detailausschnitte des Bezugsensembles (MKÜVO) sind auf den Leinwänden an der Außenseite des Objektkastens zu sehen. Die große Leinwand an der Stirnseite des Raumes zeigt eine Teilansicht der Installation der "Pathosgeste" auf der documcnta 8, 1987 in Kassel. Tulpenblütenblätter befinden sich auf dem Glasdach des Gehäuses.


Anna Oppermann, Januar 1991


[top of page]