Ensemble 1984 bis 1987 (Der Mensch und das "mehr")
Bezugspflanze: Tulpe
Bezugsensembles: "MKÜVO (Mach kleine überschaubare, verkäufliche Objekte!)" und
der
"Ökonomische Aspekt"
Im Zentrum befindet sich ein von einer Seite einsehbares und oben
offenes Gehäuse (ca. 2,50 x 2,00 x 2,00 m), rechts davon eine
alles überragende 3,50 m hohe Menschenfigur, wie zum Sprung ansetzend,
mit ausladender Geste, ohne Hände und Füße, Gesicht konturlos,
die Illusion von Körpervolumen abbildend. Diese Menschenfigur
(seit 1979 im Ensemble "Anders sein" in Drohgebärde erscheinend) taucht in der
"Pathosgeste" als Hauptmotiv in verschiedenen Variationen, Größen
und Kontexten auf: Als Foto, gezeichnet, als Schablone, in Öl
gemalt, als Negativform, liegend, stehend, vor allem als überlebensgroßer
Durchblick in das Innere des Gehäuses, in dem sich auf einem Podest
u. a. die Objekte des ersten Zustands des Ensembles befinden.
Diese sind ein von der Rückseite sichtbarer mit Leinwand bespannter
Keilrahmen (0,35 x 0,35 m), ein Tulpenblütenblatt, der Gestenmensch
(aus einem Foto ausgeschnitten, 0,18 m hoch), zwei Skizzen (die
sich wichtigmachende Erzählgeste (0,40 x 0,40 m) und die Verkäufergeste
aus dem
"Ökonomischen Aspekt" (0,60 x 0,60 m), sowie ein Zeitungsausriß
mit einem Textfragment über ein Seminar, in welchem die Gelderwerbslust
der Teilnehmer evoziert werden solI.
Anlaß für das Ensemble war das Vorhaben, ein kleines überschaubares,
verkäufliches Objekt zu schaffen (wie immer wurde daraus ein großes,
eher schwer verkäufliches). Das hier abgebildete Foto wird als Großtableau (Format ca. 2,00 x 2,50 m) außerhalb
des Gehäuses zusammen mit dem alles überragenden Gestenmenschen
Blickfang sein. Im Inneren wird sich das Kleinteilige, Differenzierte
zum Thema befinden. Außen (Oberfläche): das Laute/Monumentale,
das Polemische, das Pathetische, die Droh- oder Macht/Kampfgebärde,
das Simplifizierende; Innen (Tiefe): das Stille, das Gefährdete/Schützenswerte,
das Komplizierte, das Intime. Erster und grober Deutungsversuch
des Ensembles. Außerdem werden im Ensemble Zitate über Zeitgeist,
Pathos, Postmoderne und Reaktionen darauf enthalten sein. "Weit
entfernt von der Banalität des Bösen, erzeugt die Banalität des
Hochtrabenden jene Sprechblasen, die jeder versteht, erkennt oder
anerkennt, eben weil sie als leere Hülsen von jedermann mit jedem
beliebigen Inhalt gefüllt und damit erfüllt und erfühlt werden
können. Das vieldeutig Nichtssagende ist keine Entgleisung, sondern
Programm, sei dies nun naiv intuitiv oder bewußt kalkuliert (oder
beides), die Inhaltslosigkeit der Phrase ist ihr wahrer Inhalt,
ihr Zweck und das Geheimnis ihrer Wirkung". (Friedrich Hacker,
Wir und das Wirgefühl)
II.
Das Ensemble "Pathosgeste" ist 1984-1987 entstanden und wurde auf der documcnta
8 im Sommer 1987 im Fridericianum in Kassel erstmals präsentiert.
Es bezieht sich auf ein früheres Ensemble
"Der ökonomische Aspekt", das sich kritisch mit den Anforderungen
an Künstler auseinander setzt, handelbare Kunstobjekte zu fertigen
(
Mach kleine, überschaubare, verkäufliche Objekte -- MKÜVO). (Ein
Teil dieses Ensembles Die Fensterecke
, 1984, ist in der Kunsthalle Hamburg zu sehen). Die
"Pathosgeste" überträgt und erweitert die Forderung nach Kunst,
die sich verkaufen läßt, ironisch auf die derzeitige Kunstsituation
(Mach große, schlagkräftige, machtdemonstrierende Objekte -- MGSMO).
Im Zentrum der "Pathosgeste" steht eine menschliche Figur mit erhobenem Arm,
der als drohend, verkündend oder anpreisend gedeutet werden kann.
Die Figur wird in verschiedener Größe, in Positiv- oder Negativform,
als Holzobjekt oder gezeichnet, gemalt, photographiert dargestellt
und in unterschiedliche Kontexte gebracht. Hieraus ergibt sich
u. a. die Themenvielfalt des Ensembles. Der Kontext kann durch
die Perspektive, die Darstellungsform -- den Duktus --, das Material,
den Größenumfang, den engeren und weiteren Umraum, sowie durch
Textzitate verändert werden. Diese beziehen sich auf Pathos, Suggestion,
Manipulation, Geld-Macht-Beziehungen, Überzeugungs-, Werbe- und
Verkaufsstrategien, Zeitgeist, Postmoderne, Verpackung, "den schönen
Schein" ... Der Aspekt Verpackung selbst ist konkret im Objektkasten,
den beiden Holzfiguren und in der Wahl des Raums im Altonaer Rathaus
realisiert aber auch als Metapher für pathetisch aufhereitete
Inhalte gemeint. Der Umraum "Rathaus" ist dabei angemessen prätentiös
durch den materialkostbaren Stuck und Dekor, die großzügigen Raumproportionen
und das architektonische Stilgemisch.
Der Betrachter des Ensembles erhält die Möglichkeit, Assoziationen
aus den unterschiedlichen Bild-Text-Kombinationen zu bilden. Im
"Pathos-Raum" stehend ergeben sich für ihn auch Bezüge zur imperialen
Pose des Kaiser Wilhelm I zu Pferde, dem Gedenkraum für die im
1. und 2. Weltkrieg gefallenen Mitarbeiter der Stadtverwaltung
und dem Monument von Sol LeWitt für die zerstörte jüdische Gemeinde
Altonas, aber auch zu der vom Haus selbst ausgehenden so wie durch
die Denkmale symbolisierten Staatsmacht/Staatsgewalt. Zitat: Da
die Phänomene nicht mehr im konsequenten Determinismus miteinander
verkettet sind, obliegt es dem Betrachter, sich bewußt in ein
Netz unerschöpfbarer Relationen zu stellen, sozusagen selbst den
Grad seiner Annäherung, seine Orientierungspunkte, seine Bezugsskala
zu bestimmen (Henri Pousseur).
Ich möchte den Betrachter, aber auch mich selbst, immer wieder
an den Ursprung eines Ensembles erinnern. Hier ergab er sich aus
einem kleinen Stilleben, bestehend aus einem mit Leinwand bespannten
Holzrahmen (30x30x30cm), einem Tulpenblütenblatt und dem unscharfen
Photo einer menschlichen Gestalt. Die ersten Zustände sind auf
den beiden Photoleinwänden im Inneren des Objektkastens dokumentiert.
Auch die Tischplatte und der Fußboden im Inneren des Kastens erinnern
an eine Situation, in der das Ensemble noch vergleichsweise schlicht
und unprätentiös war. In der Ecke auf der Tischplatte steht ein
erstes Modell des Objektkastens, umgeben von Zeichnungen aus der
Meditationsphase, Konzeptskizzen, Assoziationen und Textzitaten;
Beispiele vielfältiger Darstellungsformen eines Objektes. Detailausschnitte
des Bezugsensembles (MKÜVO) sind auf den Leinwänden an der Außenseite des Objektkastens
zu sehen. Die große Leinwand an der Stirnseite des Raumes zeigt
eine Teilansicht der Installation der "Pathosgeste" auf der documcnta
8, 1987 in Kassel. Tulpenblütenblätter befinden sich auf dem Glasdach
des Gehäuses.
Anna Oppermann, Januar 1991
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