Hans Peter Althaus, Kreative Bildsprache - Anmerkungen zur Ensemblekunst
Anna Oppermanns, in Katalog: Anna Oppermann Ensembles 1968-1984, Hamburg und Brüssel
1984, S. 9-11
Das Werk Anna Oppermanns stellt für jeden ernsthaften Betrachter
eine ungewöhnliche Herausforderung dar. Bilder und Fotos mit einer
Fülle von Details und Perspektiven, Arrangements und Ensembles
aus unzähligen Einzelstücken verschließen sich einem schnellen
Erfassen der Gesamtheit, hindern das ordnende Verstehen der Teile
und des Ganzen. Und doch geht von den einzelnen Bildwerken wie
von den großen räumlichen Anordnungen eine eigentümliche Faszination
aus. Vielleicht beruht sie darauf, daß hier mit besonderer Konsequenz
ein bildnerisches Werk ausgebreitet wird, vielleicht auch darauf,
daß mehr als sonst üblich Einblick in den Zusammenhang zwischen
künstlerischer Empfindung und bildnerischem Schaffen gegeben wird.
englische Übersetzung
Den Betrachter stellt das Werk vor manche Rätsel. Auf einen Blick
läßt sich ein Ensemble nicht begreifen, aber auch den vielfach
verbundenen Perspektiven eines Bildes oder eines Fotos ist so
schnell nicht beizukommen. Geht man bei der Betrachtung ins Detail,
so verliert sich bald der Zusammenhang, und man muß nach den Ordnungen
fragen, nach denen das Material gesammelt, gruppiert und dargeboten
worden ist. Dabei erscheint vieles als bekannt, fast alltäglich.
Da sind Gegenstände aus einer banalen Umwelt und Bilder von ihnen,
die jedermann vertraut sein könnten, und doch ist ihre Bedeutung
im Zusammenhang unklar, manchmal rätselhaft. Da lassen sich einzelne
Objekte deutlich ausmachen, aber die Beziehung zwischen ihnen
ist ungewiß. Da wird ein Ensemble, das schon einmal zu sehen war,
an anderer Stelle wieder aufgebaut und ist so gründlich verändert,
daß der Zusammenhang mit dem erinnerten Eindruck erst wieder hergestellt
werden muß. Verstehen läßt sich ein solches Werk nicht auf Anhieb,
vor allem dann nicht, wenn das Ergebnis einer ersten Annäherung
nicht abermals in Frage gestellt, mit denkbaren anderen Ergebnissen
konfrontiert und so gesichert wird. Denn wo der Betrachter sich
auf dem scheinbar sicheren Gelände seiner Kenntnis und Erfahrung,
seiner Sehgewohnheiten und seines Kunstverständnisses bewegt,
sieht er sich oft unversehens in eine Umgebung ohne Pfad und Markierung
versetzt. Je mehr er sich darauf einläßt, in das Werk einzudringen,
um so fragwürdiger muß ihm alles werden, was er sieht und zu verstehen
glaubte.
Das Werk erscheint - insbesondere in den großen Aufbauten und
Ausstellungen - verwunschen wie ein Zaubergarten, in den man ohne
den Schlüssel zu seinem Verständnis eingedrungen ist. Da hilft
nur das genaue Beobachten wie bei Zeugnissen einer unbekannten
Kultur. Da kann nicht mehr gelesen, da muß wieder buchstabiert
werden. Über solches Entziffern der Einzelheiten, der wichtigen
und der weniger bedeutsamen, stellen sich Zusammenhänge ein, werden
Strukturen deutlicher, treten Motive und Themen auf, werden Absichten
und Ziele klar. Es lassen sich Ausgangspunkte aufdecken und Stadien
der Bearbeitung abgrenzen. Über allem zeigen sich die künstlerischen
Mittel, die ein Verstehen und eine Bewertung der Gestaltung und
des Gehalts ermöglichen. Ein solcher Vorgang der schrittweisen
Annäherung an ein komplexes künstlerisches Werk gleicht in vielem
dem Prozeß der Spracherlernung. Nur gibt es für die künstlerische
Sprache kein Wörterbuch und keine Grammatik, auch keinen Dolmetscher
und keinen Sprachlehrer. Der Betrachter ist immer Lernender und
Lehrer zugleich. Was er an Verständnis gewinnt, dient der Entschlüsselung
des Werks, aber auch der Erweiterung seiner Wahrnehmungs- und
Erkenntnisfähigkeit, die er wiederum dem weiteren Eindringen in
die Geheimnisse des künstlerischen Mikrokosmos dienstbar machen
kann. Das bildnerische Werk Anna Oppermanns bietet dazu mannigfache
Veranlassung, und es lohnt sich die Mühe durch einen großen Reichtum
an künstlerischem Gehalt und bildnerischer Gestaltung. Bilder
und Ensembles lassen sich als Formulierungen einer individuellen
Bildsprache verstehen, deren Entschlüsselung durch Vergleich einiger
wesentlicher Züge mit den Entsprechungen natürlicher Sprachen
versucht werden kann. Die folgenden Bemerkungen sollen darum Anhaltspunkte
für eine Lesbarmachung der Arbeiten Anna Oppermanns geben.
Als Ausgangspunkt ihrer Bilderfindung dient Anna Oppermann häufig
ein Arrangement alltäglicher Gegenstände, z. B. eine Tischdecke
mit einem Teller und einigen Blättern. Die Gegenstände, die der
Umwelt aus Natur und Zivilisation entnommen sind, sind oft geeignet,
als Symbol zu fungieren. Sie können diese Eigenschaft im allgemeinen
Zeichengebrauch bereits besitzen, oder sie kann ihnen durch die
besondere Form der Anordnung im Arrangement erst zugewiesen werden.
Dies gilt z. B. für Messer, einzelne Scherenblätter, Ziegelsteine,
Früchte usw. Von einem solchen Arrangement werden Zeichnungen
und/oder Fotografien hergestellt und dem ursprünglichen Arrangement
hinzugefügt. Das so veränderte Arrangement, das nunmehr eine Abbildung
seines früheren Zustands enthält, wird abermals Objekt einer Abbildung.
Erweiterung des Arrangements und Abbildung können nun beliebig
oft wiederholt werden. Während dieser Vorgänge werden neue Objekte
eingefügt, andere fortgelassen und die verbleibenden Teile anders
angeordnet. Bei der Fixierung im Bild wechselt der Standpunkt,
von dem aus abgebildet wird. Ein bestimmter Zustand kann nicht
nur aus verschiedener Perspektive, sondern auch in ganz unterschiedlichen
Ausschnitten, Maßstäben, Verzerrungen und mit ganz verschiedenen
Techniken, gezeichnet, gemalt, schwarzweiß oder farbig fotografiert,
verkleinert und vergrößert, übermalt und überklebt abgebildet
werden.
Die ursprüngliche Idee verändert sich im Laufe ihrer Bearbeitung
teils stärker, teils weniger stark. Manchmal werden Seitenthemen
abgespalten und eigens weiterbearbeitet, manchmal werden Themen
zusammengefaßt oder bestimmte Fassungen aus anderem Zusammenhang
zitiert. Manchmal bleibt ein Thema lange liegen, ehe es wieder
aufgegriffen wird, manchmal verändert sich eine thematische Ausformulierung
schon in kurzer Zeit wieder. Für solche Änderungen können äußere
und innere Anlässe maßgebend sein. Der Neuaufbau eines Ensembles
für eine Ausstellung läßt sich so gut wie nie als Rekonstruktion
eines früheren Aufhaus herstellen. Schon dies allein fordert Änderungen.
Es kommt aber hinzu, daß der künstlerische Prozeß, der der Gestaltung
des Themas zugrunde liegt, in der Zeit zwischen zwei verschiedenen
Aufbauten desselben Ensembles nicht stillsteht. So sind meist
neue Ansichten, Zitate, Gegenstände, aber auch Zeichnungen und
Fotos gesammelt worden, die nun eingeordnet werden müssen. Zu
den Materialien, die bei einem Neuaufbau immer zu berücksichtigen
sind, gehören die Bilder, Zeichnungen und Fotografien, durch die
der letzte Zustand fixiert ist und die den Wandlungs- und Alterungsprozeß
der Ausarbeitung bezeichnen.
Die Beschäftigung mit der bildlichen Gestaltung eines Themas reicht
darum vom ersten Arrangement bis zur letzten Abbildung. Immer
bleibt jedoch als Grundprinzip erhalten, daß dem Aufbau eines
Arrangements oder eines Ensembles in mehr oder minder ausgedehnter
dreidimensionaler Form die Zusammenfassung des Ganzen oder einzelner
Teile im zweidimensionalen Bild folgt. Damit ist Anna Oppermanns
Ensemblekunst ein dynamischer Prozeß, in dem sich aus einer begrenzten
Zahl bildlicher Mittel und einer geringen Zahl von Regeln die
Möglichkeit zu einer unendlichen Vielzahl von Formulierungen ergibt.
Die potentielle Unabgeschlossenheit der Bildgestaltungen im Zusammenhang
eines Ensembles folgt aus der wiederholten Anwendung weniger Regeln,
die die Einfügung, Fixierung und Tilgung von Bildelementen betreffen.
Darin gleicht dieser bildkünstlerische Prozeß dem Gebrauch natürlicher
Sprachen. Bei ihnen sichert diese, Rekursivität genannte Erscheinung
die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen insoweit, als sie
ihn in die Lage versetzt, mit begrenzten Mitteln eine unendliche
Menge von Formulierungen zu erzeugen und zu verstehen. Allerdings
wendet Anna Oppermann die rekursiven Regeln nicht schematisch
oder seriell an, sondern durchaus frei und nur von künstlerischen
Absichten und Zielen geleitet. Auch dies gleicht dem Gebrauch
der natürlichen Sprachen. Die Rekursivität ihrer Bildkunst engt
darum die künstlerische Kreativität nicht ein, sondern schafft
im Gegenteil die Freiheit, die die künstlerische Aussage in unterschiedlichen
Formulierungen erst ermöglicht.
Die aufgrund der Rekursivität der künstlerischen Mittel geschaffenen
Einzelbildwerke und Ensembles entsprechen in ihrer Eigenschaft
als Artefakte in vieler Hinsicht den Texten, die als sprachliche
Äußerungen in Kommunikationsvorgängen erzeugt, übermittelt, verstanden
und fixiert werden. Es soll daher versucht werden, durch einen
Vergleich zwischen bildkünstlerischen Ensembles und Texten natürlicher
Sprachen Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzudecken, um so einen
weiteren Ansatz zum Verständnis der Kunst Anna Oppermanns zu gewinnen.
Jede Zeichnung, jedes Bild und jede Fotografie läßt sich als bildlicher
Text begreifen, zusammengesetzt aus einer Menge bildlicher Einzelelemente
und erzeugt als Teil einer Folge gleichgearteter Bildtexte. Diese
schließen sich zu Gruppen zusammen, etwa zu den Teilen eines Ensemblezustands
bzw. -aufbaus, bilden größere Einheiten wie die sämtlichen Einzelteile
eines Ensembles und machen schließlich die Gesamtheit aller Bildwerke
der Künstlerin, ihr bildnerisches Textkorpus, aus. Neben eine
solche statische, die Bildhierarchien berücksichtigende Betrachtung
tritt die Beobachtung der dynamischen Faktoren. Alle Bildtexte
lassen sich auch als Teile eines bildnerischen Kommunikationsprozesses
verstehen. Dieser Prozeß ist ein Dialog, den die Künstlerin mit
sich selbst, mit ihrer schöpferischen Empfindung und mit ihren
Werken als dem Tresor ihrer Erinnerung führt. Dabei sind einander
folgende Bilder keineswegs immer als direkte Korrespondenzen anzusehen,
sondern es treten vielfach gestufte Rückgriffe, Hervorhebungen,
Wiederaufnahmen, Bezugnahmen, Ergänzungen, Erweiterungen, Zusammenfassungen
auf, die die Abfolge der Bilderzeugung von Gehalt und Bedeutung
der bildnerischen Einzeltexte her mannigfach strukturieren. Auch
hierin gleichen die Bildtexte den Sprachtexten, deren lineare
Verkettung durch syntaktische und semantische Strukturen, die
von der linearen Folge unabhängig sind, interpretiert werden.
Deutlicher noch als bei Sprachtexten tritt im Fortschreiten der
Bilderzeugung hervor, daß die vorhandene Komposition als Thema
neuer Bildgestaltung mit dem Rhema neuer bildnerischer Aussagen
verbunden wird. Dabei kann sich die neue, rhematische Information
auch auf einen Ausschnitt aus dem Thema beziehen, wodurch etwa
eine Hervorhebung oder eine getrennte Erörterung einzelner Eigenschaften
ermöglicht werden kann. Die Beziehung zwischen den bildnerischen
Teiltexten wird jedoch nicht nur vom Verlauf der thematischen
Progression gestiftet, sondern auch von der Entwicklung des bildnerischen
Kommunikationsvorgangs, der sich nicht nur als Binnendialog der
Künstlerin mit sich selbst, sondern auch als Prozeß zwischen Künstlerin
und Publikum ergibt. Erfahrungen und Erlebnisse aus der Präsentation
der Bildwerke fließen über die bildliche Gestaltung in das Werk
ein und verändern es ebenso wie der künstlerische Prozeß.
Dem Publikum erscheint das bildnerische Werk Anna Oppermanns anders,
als es die Künstlerin selbst wahrnimmt. Sie kann ihr Werk als
geordnete, thematisch und zeitlich gegliederte Menge von Bildtexten
erleben, während das Publikum die Ensembles zunächst als Gesamtheit
prinzipiell gleichwertiger Bildtexte erfahren muß. Beziehungen,
Über- und Unterordnungen, zeitliche Abfolgen, thematische Entwicklungen,
Bestätigungen früherer Auffassungen oder deren Negation, Tilgungen
und Hinzufügungen, die der Künstlerin in diesem besonderen Charakter
jeweils präsent sind, müssen durch das Publikum aufgrund aller
Einzelheiten sorgfältig beobachtet, festgelegt und bewertet werden.
So haben die großen Bildwerke fast durchweg den Charakter eines
Palimpsests, einer wiederverwandten Handschrift, wobei hier allerdings
die frühere Eintragung nicht vollständig getilgt, sondern als
Hintergrund der Neuformulierung genutzt ist. Das Entziffern solcher
gleichsam noch einmal überschriebenen Bildtexte ist ebenso schwierig
wie das Lesen sprachlicher Palimpseste. Gilt es doch zu prüfen,
was eingefügt ist und wie, was die ältere und was die jüngere
Formulierung darstellt, was miteinander im Einklang steht und
die Bildformulierungen fortführt, was als Gegensatz bloß durch
Wiederbenutzung der Bildebene, was als Ausdruck einer besonderen
Bildformulierung des Themas verstanden werden muß. Die Textanalyse
natürlicher Sprachen nutzt hierzu die historischkritische Methode,
die die einzelnen Formulierungen nach der Abfolge ihrer Entstehung
sondert und neuerdings - etwa bei der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe
- den Prozeß der Umformulierung und Neuformulierung als Ergebnis
künstlerischen Ringens erlebbar und nachvollziehbar macht. Dem
Werk Anna Oppermanns ist allerdings nicht nur das sprachkünstlerische
Werk eines Dichters vergleichbar, der in wiederholten Ansätzen
eine endgültige Fassung seiner Dichtung erstrebt, sondern auch
das Werk der Philologen, die in der historisch-kritischen Ausgabe
der Dichtung neben dem Werk auch den Schaffensprozeß dokumentieren
wollen. Denn im Dichtwerk verlieren sich die Stadien seiner Erzeugung
im Material der Sprache, während im Bildwerk Anna Oppermanns die
Zeitkomponente des Werks sichtbar und erlebbar bleibt.
Geht man bei der Betrachtung der Bildtexte ins Detail, so lassen
sich zahlreiche Parallelen zu den Texten natürlicher Sprachen
feststellen. Wie die Sprache symbolisiert auch das Bild durch
eine geordnete Beziehung zwischen abgebildetem Objekt und abbildendem
Zeichen. Hierzu wird die Ähnlichkeitsbeziehung genutzt, die in
der Sprache auch vorkommt - etwa bei Lautmalereien -, jedoch keine
so herausragende Rolle spielt. Anders als in Sprachtexten ist
jedoch in den Bildtexten Anna Oppermanns das Objekt der Abbildung
mit enthalten. Die Bildtexte greifen in dieser Hinsicht über die
Sprachtexte hinaus und gleichen der Gesamtheit einer kommunikativ
relevanten Umgebung. Das Auftreten der abgebildeten Originale
ermöglicht den unmittelbaren Verweis durch eine Zeigehandlung.
Solche deiktischen Elemente sind in Sprachen nur rudimentär -
im Deutschen etwa durch Zeigewörter wie hier, da, dort - enthalten.
Sie können in der Bildkunst der Ensembles systematisch genutzt
und ausgebaut werden.
Einzelne Bildelemente können reproduziert, modifiziert, kombiniert
und ausgetauscht werden. Sie gleichen damit Wörtern in Sätzen.
Durch die Reproduktion eines Bildelements wird dieses isoliert,
von seiner Umgebung abgehoben und gleichsam lexikalisiert. Modifikationen,
die durch mannigfaltige bildnerische Mittel erzeugt werden können,
lassen sich mit lexikalischen und grammatischen Veränderungen
vergleichen, wie sie die Wortbildung durch Ableitung und Zusammensetzung,
die Flexion durch Deklination und Konjugation ermöglichen. Die
Kombination verschiedener Bildelemente kann als syntaktische Fügung,
ihre Ersetzung als Bildung eines Feldes aus Bildelementen verstanden
werden.
Für die Kombination besitzt die Sprache mit der Reihung und der
Fügung zwei Verfahren, die in den Bildtexten in gleicher Weise
vorkommen. Unverbundene Fügung und nebenordnende Reihung bezeichnen
die Möglichkeiten der linearen Anordnung, die jedoch anders als
in der Sprache nicht auf die Links- oder Rechtsläufigkeit eingeschränkt
ist. Hierarchien von Einfügungen, wie sie mit der wiederholten
Abbildung im Rahmen eines Arrangements auftreten, entsprechen
den hypotaktischen Fügungen der Sprache, wie sie etwa in Schachtelsätzen
enthalten sind. Lassen sich sprachliche Nebenordnungen oftmals
nicht eindeutig zuordnen und sprachliche Über- und Unterordnungen
haufig nur mühsam entschlüsseln, so gilt dies in gleicher Weise
für die Bildtexte. Auch hier ist die nebenordnende Beziehung vielfach
interpretationsbedürftig, die einordnende Beziehung benötigt den
ordnenden Nachvollzug.
Von den komplexeren Sprachphänomenen hat Anna Oppermann den Kommentar
zur Geschehensrichtung, der sprachlich durch die Wahl von Aktiv-
oder Passivformulierungen ausgedrückt wird, in den Bildtexten
durch eine große Zahl von Perspektiven erweitern können. Nicht
nur aus der Sicht des einen oder anderen, des Handelnden oder
Betroffenen, läßt sich wie in der Sprache ein Sachverhalt darstellen,
sondern von hinten und vorn, von oben und unten und auch von jeder
beliebigen Seite. Die Orientierung der Objekte im Raum ermöglicht
bildlich eine Gesamtschau, die jedoch bei Zeichnung, Bild und
Foto durch die gewählte Perspektive wieder eingeschränkt wird.
Im Ensemble können jedoch unterschiedliche Perspektiven nebeneinander
mitgeteilt werden. Dadurch lassen sie sich gegenseitig kommentieren,
eine Möglichkeit, die in der Sprache zwar auch angelegt ist, sich
aber im gewöhnlichen Gebrauch verbietet. Auch bei der Angabe des
Zeit- und Wirklichkeitsbezuges hat Anna Oppermann ihrer Bildkunst
Möglichkeiten geschaffen, wie sie sonst nur in der Sprache vorkommen.
Durch die verschiedenen Zustände der Ensembles und deren Wiederauftreten
auf neuen Bildern und Fotos bekommen diese eine zeitliche Schichtung,
wie sie so durchgängig in der Bildkunst sonst nicht ausgedrückt
wird. Zwar sind Zeitbezüge auf Bildern nicht neu - man denke etwa
an die Vergänglichkeitsallegorien des Barock -, doch stellt die
konsequente Nutzung der Zeitreferenz in den Ensembles eine Besonderheit
dar, die die künstlerische Ausdrucksfähigkeit wesentlich erweitert.
Innerhalb der Bildtexte können so Gleichzeitigkeiten, Vorzeitigkeiten
und Nachzeitigkeiten dargestellt und die Bildelemente auf einer
weiteren Ebene in Bezug gesetzt werden. Auch der Wirklichkeitsbezug
kann modifiziert werden. Schon die Surrealisten haben die Darstellung
des Unmöglichen neben die Darstellung des Wirklichen oder als
wirklich Denkbaren gestellt. In den Ensembles treten weitere modale
Differenzierungen auf, etwa die Darstellung des Möglichen oder
des Notwendigen. Hierzu werden zeichnerische und symbolische Mittel
verwendet: Unschärfe, Anschnitt, Lavierung, aber auch Hinzufügung
von Symbolzeichen wie Messer und Schere.
Schließlich gleichen die Bildtexte auch in ihrer Komposition den
Sprachtexten. Wiederholungen einzelner Bildelemente dienen durch
ihren abermaligen Verweis auf den Bildinhalt nicht nur der Kohärenz
zwischen den einzelnen Teilen eines Ensembles, sondern sie stellen
auch rhythmische Beziehungen her und entsprechen Textbindungen,
wie sie durch Alliteration und Reim erzeugt werden. Die Komposition
der Ensembles aus Teilen, die wieder in kleinere Teile zerfallen,
läßt sich mit sprachlichen Elementen wie Zeile und Strophe vergleichen.
In neueren Ausstellungen hat Anna Oppermann die innere Komposition
eines Ensembles auch durch Aufbauten sichtbar gemacht, die die
frühere Ausbreitung über Wand und Boden oder später über zwei
Eckwände und den Boden durch eine räumliche Binnengliederung ergänzt
haben. In solchen vielfältig differenzierten Gesamtkunstwerken
finden sich dann auch Ausdrucksformen, die der künstlerischen
Großform unterlegt werden, wie Ironie und Parodie. Sie lassen
erkennen, daß Anna Oppermanns Bildsprache einen Stand erreicht
hat, der es der Künstlerin ermöglicht, im Ringen um den künstlerischen
Ausdruck Erlebnisse, Empfindungen und Erfahrungen in eine bildkünstlerische
Komposition zu bannen, die in ihrer Totalität, ihrer Vielschichtigkeit
und ihrer Aussagekraft einzigartig ist.
Den künstlerischen Mikrokosmos, den Anna Oppermann mit ihren Ensembles
geschaffen hat, kann man mit einigem Recht den Gesamtkunstwerken
der Vergangenheit - etwa den Merzbauten Kurt Schwitters'- an die
Seite stellen. Wie bei vielen anderen, auf eine Gesamtheit künstlerischer
Ausdrucksformen zielenden Werken ist auch bei den Ensembles der
Zugang zum Verständnis nicht leicht. Dem schöpferischen Prozeß
der Künstlerin, der zu ihrer Entstehung und Ausgestaltung führte,
muß darum ein nachschöpferischer Prozeß des Entzifferns, Lesens
und Dechiffrierens an die Seite treten. Viele scheinbare Verrätselungen
erweisen sich darin als Bildwerke, in denen Verfremdung und Verdichtung
zur Erreichung des Ausdruckszieles notwendig verbunden sind. Die
Kopräsenz der Ensembles in eine erfahrbare Ordnung von Aussagen
aufzulösen, ist darum eine Aufgabe, an der jeder Betrachter der
Ensembles kreativ mitwirken muß. Er wird nicht nur durch das Erlebnis
unvergleichbarer Bildkunst belohnt, sondern auch durch die Sensibilisierung
seiner eigenen Fähigkeiten.
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