Herbert Hossmann: Seltsame Zufälle - Zur Neuinstallation des Ensembles »Paradoxe Intentionen« im Celler Schloß,

in Katalog: "Paradoxe Intentionen (Das Blaue vom Himmel herunterlügen)", Hamburg und Brüssel, 1998, S. 4-5
englische Übersetzung

Im Dezember 1984 erreicht Anna Oppermann ein Telefonanruf in Hamburg: Ob sie bereit sei, den Heitland Preis entgegenzunehmen und im Celler Schloß eine Ausstellung einzurichten. Sie ist überrascht. Der erst 1980 gestiftete und mit 25.000 DM gut dotierte Preis ist ihr bisher nicht bekannt. Überrascht besonders deshalb, ist doch der Preis mit der Stadt verbunden, in der sie gerade private Kontakte geknüpft hat.

Drei Jahre später, 1987, bezieht Anna mit mir ein Atelierhaus in Celle, im Winkel der Mündung zwischen Lachte und Aller. Nicht weit von hier, in Bargfeld, dem kleinen Dorf in der Nähe von Celle, entsteht »Zettels Traum«, das Monumentalwerk Arno Schmidts. »Wir befinden uns an der Mündung des schmalen Wassers« lokalisiert Arno Schmidt diesen Ort, »auf 10 Grad, 20 Minuten 50 Sekunden, östlicher Länge, dagegen 52 Grad, 42 Minuten, 30 Sekunden nördlicher Breite. Es ergießt sich in die Lutter, hier, an eben dieser Stelle. Wohin diese Lutter? - In die Lachte. Und die? - In die Aller. - Die, bei Verden in die Weser. Diese wieder in die Nordsee. Und so geht es fort«. Anna Brenken greift den geographischen Zusammenhang in einem Fernsehfilm auf, zieht Parallelen zwischen der Oppermannschen »Kunst aus dem Zettelkasten« und dem Schöpfer von »Zettels Traum«. Doch mit der Persönlichkeit Arno Schmidts und seinem erzählerischen Werk kann sich Anna nur schwer anfreunden und stets wehrt sie sich gegen Zuschreibungen. Einzig im posthum - Arno Schmidt stirbt 1979 in Celle - veröffentlichten theoretischen Text »Berechnungen III« entdeckt sie Entsprechungen. Ähnlich wie der Schriftsteller versucht auch sie, in ihren Ensembles »verschiedene Bewußtseinszustände, Bewußtseinsebenen, Bezugssysteme (Bewertungsräume) Metaebenen visualisiert oder artikuliert darzustellen.«

Selten hat die Kunstkritik zudem versäumt, Beziehungen zwischen der Kunst Anna Oppermanns und Kurt Schwitters herzustellen, und häufig wurden die Ensembles als in den Raum transportierte Collagen, als Weiterführungen des Merzbaus beschrieben. Anna hat sich auch hiergegen immer gewehrt: »die grundsätzlichen Unterschiede überwiegen«. Heute beherbergt das Sprengel Museum Hannover neben dem rekonstruierten Merzbau und wesentlichen Teilen des Werkes von Kurt Schwitters Anna Oppermanns großes Ensemble »Umarmungen, Unerklärliches und eine Gedichtzeile von R.M.R.«. Doch zu Kurt Schwitters können über die Stadt Celle und das Atelierhaus noch andere, sonderbarere Verbindungen gesponnen werden. Das Landhaus - Annas Arbeitsrefugium - wurde etwa 1930 von einem jungen Assistenten des berühmten Architekten Otto Haesler erbaut, der eng mit Kurt Schwitters befreundet war und dessen Celler Bauten in die Geschichte der modernen Architektur eingegangen sind. Wahrscheinlich hat Haesler mit Schwitters über das ungewöhnliche Haus seines begabten Assistenten gesprochen, es vielleicht mit ihm gemeinsam betreten.

Ein weiterer Zufall: Während eines Symposiums 1989 in Bonn lernt Anna die Berliner Kunstwissenschaftlerin Ines Lindner kennen. Sie lädt Anna zur Teilnahme an dem Projekt »Dialoge - Aesthetische Praxis in Kunst und Wissenschaft von Frauen« ein, das in Kiel stattfinden soll. Beider Überraschung ist groß als Ines Lindner zum Atelierbesuch - statt wie erwartet nach Hamburg - nach Celle gebeten wird und Anna erfährt, daß ihre Besucherin aus Celle stammt und seit früher Kindheit bestens mit dem Umkreis des Hauses und seinen Bewohnern vertraut ist. Beim Besuch steht im Atelier das Ensemble »Paradoxe Intentionen - Das Blaue vom Himmel herunterlügen«. Beide einigen sich schnell, dieses Ensemble in Kiel zu zeigen. Und bis zur Installation im Sophienhof, April 1991, entstehen in Celle über 30 weitere Bildleinwände, mehr als 200 Zeichnungen. Als im Juli 1991 Bernice Murphy, Leiterin des Museum of Contemporary Art Sydney nach Celle kommt, um Einzelheiten einer für das Frühjahr 1993 geplanten Ausstellung zu besprechen, fällt die Wahl wiederum auf die »Paradoxen Intentionen«, denn es soll möglichst eine große Rauminstallation über einen längeren Zeitraum in Australien gezeigt werden. Anna wird die Installation in Sydney nicht mehr selbst ausführen. Sie stirbt am 8. März 1993 in Celle. Zum posthumen Neuaufbau 1994 schreibt Bernice Murphy: »Obwohl die Installation des Ensembles in Sydney als losgelöste, in sich vollständige Präsentation gesehen werden kann, sollte sie auch in ihrer offenen Anlage verstanden werden, in ihren Verbindungen zu einer komplexeren Geschichte, der Geschichte von Anna Oppermanns Gesamtwerk und ihrer Verknüpfung mit dem größeren sozialen und intellektuellen Fundus der deutschen (und europäischen) Kunst, wie sie sie während ihres Lebens wahrnahm.«

Fünf Jahre nach Annas Tod kehrt das Ensemble nun in die Stadt zurück, in der es maßgeblich entstand und mit der die Künstlerin eben nicht nur über »seltsame Zufälle« - im Kleistschen Sinne - verbunden war. So leicht, so zufällig sie auch wirken, sind sie doch in das Werk bedeutsam eingeflossen.



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