Drei Jahre später, 1987, bezieht Anna mit mir ein Atelierhaus
in Celle, im Winkel der Mündung zwischen Lachte und Aller. Nicht
weit von hier, in Bargfeld, dem kleinen Dorf in der Nähe von Celle,
entsteht »Zettels Traum«, das Monumentalwerk Arno Schmidts. »Wir
befinden uns an der Mündung des schmalen Wassers« lokalisiert
Arno Schmidt diesen Ort, »auf 10 Grad, 20 Minuten 50 Sekunden,
östlicher Länge, dagegen 52 Grad, 42 Minuten, 30 Sekunden nördlicher
Breite. Es ergießt sich in die Lutter, hier, an eben dieser Stelle.
Wohin diese Lutter? - In die Lachte. Und die? - In die Aller.
- Die, bei Verden in die Weser. Diese wieder in die Nordsee. Und
so geht es fort«. Anna Brenken greift den geographischen Zusammenhang
in einem Fernsehfilm auf, zieht Parallelen zwischen der Oppermannschen
»Kunst aus dem Zettelkasten« und dem Schöpfer von »Zettels Traum«.
Doch mit der Persönlichkeit Arno Schmidts und seinem erzählerischen
Werk kann sich Anna nur schwer anfreunden und stets wehrt sie
sich gegen Zuschreibungen. Einzig im posthum - Arno Schmidt stirbt
1979 in Celle - veröffentlichten theoretischen Text »Berechnungen
III« entdeckt sie Entsprechungen. Ähnlich wie der Schriftsteller
versucht auch sie, in ihren Ensembles »verschiedene Bewußtseinszustände,
Bewußtseinsebenen, Bezugssysteme (Bewertungsräume) Metaebenen
visualisiert oder artikuliert darzustellen.«
Selten hat die Kunstkritik zudem versäumt, Beziehungen zwischen
der Kunst Anna Oppermanns und Kurt Schwitters herzustellen, und
häufig wurden die Ensembles als in den Raum transportierte Collagen,
als Weiterführungen des Merzbaus beschrieben. Anna hat sich auch
hiergegen immer gewehrt: »die grundsätzlichen Unterschiede überwiegen«.
Heute beherbergt das Sprengel Museum Hannover neben dem rekonstruierten
Merzbau und wesentlichen Teilen des Werkes von Kurt Schwitters
Anna Oppermanns großes Ensemble »Umarmungen, Unerklärliches und eine Gedichtzeile von R.M.R.«.
Doch zu Kurt Schwitters können über die Stadt Celle und das Atelierhaus
noch andere, sonderbarere Verbindungen gesponnen werden. Das Landhaus
- Annas Arbeitsrefugium - wurde etwa 1930 von einem jungen Assistenten
des berühmten Architekten Otto Haesler erbaut, der eng mit Kurt
Schwitters befreundet war und dessen Celler Bauten in die Geschichte
der modernen Architektur eingegangen sind. Wahrscheinlich hat
Haesler mit Schwitters über das ungewöhnliche Haus seines begabten
Assistenten gesprochen, es vielleicht mit ihm gemeinsam betreten.
Ein weiterer Zufall: Während eines Symposiums 1989 in Bonn lernt
Anna die Berliner Kunstwissenschaftlerin Ines Lindner kennen.
Sie lädt Anna zur Teilnahme an dem Projekt »Dialoge - Aesthetische
Praxis in Kunst und Wissenschaft von Frauen« ein, das in Kiel
stattfinden soll. Beider Überraschung ist groß als Ines Lindner
zum Atelierbesuch - statt wie erwartet nach Hamburg - nach Celle
gebeten wird und Anna erfährt, daß ihre Besucherin aus Celle stammt
und seit früher Kindheit bestens mit dem Umkreis des Hauses und
seinen Bewohnern vertraut ist. Beim Besuch steht im Atelier das
Ensemble »Paradoxe Intentionen - Das Blaue vom Himmel herunterlügen«. Beide
einigen sich schnell, dieses Ensemble in Kiel zu zeigen. Und bis
zur Installation im Sophienhof, April 1991, entstehen in Celle
über 30 weitere Bildleinwände, mehr als 200 Zeichnungen. Als im
Juli 1991 Bernice Murphy, Leiterin des Museum of Contemporary
Art Sydney nach Celle kommt, um Einzelheiten einer für das Frühjahr
1993 geplanten Ausstellung zu besprechen, fällt die Wahl wiederum
auf die »Paradoxen Intentionen«, denn es soll möglichst eine große
Rauminstallation über einen längeren Zeitraum in Australien gezeigt
werden. Anna wird die Installation in Sydney nicht mehr selbst
ausführen. Sie stirbt am 8. März 1993 in Celle. Zum posthumen
Neuaufbau 1994 schreibt
Bernice Murphy: »Obwohl die Installation des Ensembles in Sydney
als losgelöste, in sich vollständige Präsentation gesehen werden
kann, sollte sie auch in ihrer offenen Anlage verstanden werden,
in ihren Verbindungen zu einer komplexeren Geschichte, der Geschichte
von Anna Oppermanns Gesamtwerk und ihrer Verknüpfung mit dem größeren
sozialen und intellektuellen Fundus der deutschen (und europäischen)
Kunst, wie sie sie während ihres Lebens wahrnahm.«
Fünf Jahre nach Annas Tod kehrt das Ensemble nun in die Stadt
zurück, in der es maßgeblich entstand und mit der die Künstlerin
eben nicht nur über »seltsame Zufälle« - im Kleistschen Sinne
- verbunden war. So leicht, so zufällig sie auch wirken, sind
sie doch in das Werk bedeutsam eingeflossen.
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