(1)«!
Diese lapidare Diagnose trifft ziemlich genau das, was bei der
Begegnung von Wissenschaftlerinnen, die sich mit Künstlerinnen
im Februar 1989 im Bonner Kunstverein trafen, passiert ist (2). Aber es zündete auch. Anna wies einen kunsthistorischen »Ortungsversuch«
von mir harsch ab. Und doch gab es eine gegenseitige Einläßlichkeit,
einen Adressentausch mit Überraschung: Sie hat ihr Arbeitsrefugium
in meinem Geburtsort.
Dort treffe ich Anna für ein erstes Gespräch im Rahmen des Projekts
»Dialoge«, mein im Monat zuvor geborenes Kind im Arm. Mit ihm
ist es, als hätte ich einen durch die Zentralperspektive organisierten
Raum verlassen, wo markiert ist, wo ich bin, wo es/das andere
ist, welche Größen/Entfernungs/Näheverhältnisse herrschen. Schwer
zu sagen, wo oben und unten ist. Irritierend, aber vielleicht
die passende Disposition für das Gespräch mit Anna, für ihre Ensembles,
die weder eine statische Subjektposition voraussetzen noch einfordern.
Das Spiel der Facetten, Texte, Embleme, die Offenheit aller Perspektiven
in ihm verhindern, daß man es sich bequem machen kann in der ästhetischen
Distanz, aus der »das Ganze« zu überblicken wäre. Sich auf die
rhythmische Struktur von Wiederholung, Ausschnitt, Vergrößerung,
Verkleinerung, von Text und Bild einzulassen verlangt Tanzschritte,
Drehungen, halbe Kehrtwendungen: wer sehen will, muß sich geradezu
physisch auf die perspektivischen Rhythmen von nah und fern, Vergrößerung
und Verkleinerung, von Text und Bild einlassen. Jedes Anhalten,
jedes Hierarchisieren eine kleine Lüge, die im Gemurmel eines
Kommentars untergeht, mit dem die Facetten des Ensembles untereinander
kommunizieren, den Dialog aufnehmen. . .
Dialog?
Mal forsch und fordernd, mal zag habe ich die Rolle der Fragerin
eingenommen, die Annas Arbeitsweisen auf die Spur zu kommen versucht
- und den eigenen. Von der ersten Begegnung mit ihren Ensembles
an hat mich beschäftigt, daß sie sich um einen Faszinationskern
kristallisieren, der für eine besondere Blickeinstellung sorgt:
In Lektüren, Wahrnehmungen aller Art, im Zufälligen, Ephemeren
macht Anna Spuren der Verzweigungen aus, die Bestandteil der Arbeit
werden.
Das ästhetische Konzept der Präsentationsform, die Anna dafür
entwickelt hat, gibt dem Raum, was in der Linearität argumentativer
Texte meist verschliffen wird. Wie wenig bleibt in kunsthistorischen
Texten von den Liebesblicke und Schwerter kreuzenden Kämpfen zwischen
Bildern und Texten über, die überhaupt keine Neigung zeigen, sich
den Geboten der Disziplin zu unterwerfen; den zwischen Bildern
und Bildern, Texten und Texten, die illegitime Verbindungen eingehen
und die lebensfrohsten Bastarde zeugen. Meist werden sie dem vorweggenommenen
bösen Blick des Fachpublikums geopfert oder so zugerichtet, daß
sich Staat mit ihnen machen läßt. Anna hat sich bemüht, auf meine
Fragen zu antworten und zeigte sich immer wieder von Zweifeln
geplagt, ob es das war, was zu sagen gewesen wäre. Ich fing an,
meine Fragen zu befragen, das Fragen selbst. Welche Art von Antworten
erwartete ich denn, wenn ich nach einem Gespräch mit einer gewissen
Ratlosigkeit vor meinen hingekritzelten Notizen saß? Auch präzise
Vorstrukturierungen änderten nichts daran. Da andere Wissenschaftlerinnen
aus dem Projekt von ähnlichen Erfahrungen berichteten und eine
Künstlerin mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrigließ,
sich weigerte, auf aus dem Projektzusammenhang entwickelte Fragestellungen
überhaupt zu antworten, war es an der Zeit, die Mechanismen des
Frage- und Antwortspiels im Dialog zu überdenken.
SOKRATES: Betrachten wir es demnach so. PHAIDROS: Wie denn? Offenbar.
Ich gestehe es. Gerade so. Ja. Wie anders? So freilich. Allerdings.
Wie eigentlich meinst du dieses? Wie sollte ich nicht! Notwendig.
Unmöglich. So geht es wohl zu damit. Niemals. So wird es wohl
sein (Platon, Phaidros).
MARCEL DUCHAMP: So war es. Das stimmt. Das weiß ich selber nicht.
So ist es. Das stimmt schon, aber ich hatte das damals schon wieder
leid (Piere Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp).
FLORIAN RÖTZER: Herr Minsky, Sie begannen als... TIMOTHY LEARY:
Aa, burn out, take a rest (Kunstforum 110).
Das scheinbar allein der Neugier folgende Spiel von Frage und
Antwort im Gespräch, Dialog, Interview, zeigt sich beim näheren
Zusehen als eine Struktur kultureller Vermittlung, deren Regeln
von einer Ergebnisorientierung bestimmt sind: Position der Sprechenden,
Art und Ort der Veröffentlichung bestimmen das, was gesagt, was
vom Gesagten wahrgenommen wird, und was in Schrift verwandelt
als »Quelle« zitiert wird. Während im Sprechen Gedanken, Gefühle
und Wörter ineinander übergehen, jederzeit die Möglichkeit der
reaktiven Ergänzung gegeben ist, setzt mit der Verschriftlichung
die Trennung ein. Was wird sie damit machen? Die mißtrauische
Rückfrage der Befragten, markiert ein Konfliktfeld zwischen Künstlerinnen
und Wissenschaftlerinnen, die sich im Projekt »Dialoge« weit mehr
aufeinander eingelassen haben, als sonst üblich, mehr und anders,
intimer, als wenn ein routinierter Frager für ein Gespräch anreist,
das in einer Zeitschrift, einem Katalog veröffentlicht werden
soll. Ein verwirrendes Spiel von Abweichungen, Zulassen, Zurückziehen
setzt ein, Wunsch und Angst gegenüber diskursiver Vereindeutigung
treiben die schönsten Blüten.
CELLE; DIENSTAG; DEN 27. NOVEMBER 1990
Durch das Fenster eines Ladens sieht man Annas Ensembles. Frauen
gehen zwischen ihnen herum, die meisten Teilnehmerinnen des Projekts.
Vielleicht habe ich sie eingelassen. Möglicherweise gegen Annas
Willen. Asiaten kommen eine flache Treppe Seite an Seite herunter.
Wortlos, nicht unhöflich, bestimmen sie uns, den Laden zu verlassen.
Vielleicht sind es Chinesen.
Die Traumsequenz nimmt das Spiel zwischen Herzeigen und Verbergen,
Einladen und Abweisen auf und wirft ein Streiflicht auf meine
eigene Position.
Erst dann ein Verschreiben beim Übertrag auf ein Blatt für Anna
werde ich auf die an(n)a(-?)grammatische Struktur, die verschlüsselte
Botschaft in den »Chinesen« aufmerksam, in denen »ich« steckt
und »Ines«. Erst in der Schrift zeigt sie sich, der selbst der
Montagecharakter abzulesen ist.
Immer ist der Text nur der halbe Text, hier buchstäblich, denn
in meiner Wiedergabe unterschlage ich die Kommentarzeilen, die
ich für Anna beigefügt habe und das Foto mit dem Blick auf »Das
Blaue vom Himmel herunterlügen« durchs Fenster unten auf dem Blatt.
In der Kieler Präsentation selbst Teil des Ensembles, ist es in
neue Lektüre- und Sehkontexte eingegangen, für mich lesbar als
Spur unseres Dialogs, lesbar dort als Teil mit den anderen Teilen
im Dialog. Auch andere Spuren entdecke ich während der letzten
Aufbauphase wieder und begreife erst jetzt, daß das Ensemble nicht
Gegenstand, sondern Ort des Dialogs ist, Annas Art zu antworten;
verstehe ich meine eigene arbiträre Textwahl auf den Spuren des
»Blaus«, meine Textproduktion, die zahllosen Kontaktbögen von
Fotos mit einer Art heiteren Überraschung, ja Herzklopfen, als
das, worauf sich die »Dialoge« in der Konzeption der Projektgruppe
richten sollten: Eine Form der ästhetischen Praxis. Annas Arbeitsweise,
vielleicht Faszinationskern und Dynamik des Ensembles selbst,
haben meine Taschen umgekehrt und die Fundstücke, Träume, Reflexionen
in Bestandteile eines Wort- und Bildernetzes verwandelt, das einen
eigenen Raum entwirft.
Das Blaue vom Himmel herunterlügen, Kiel, April 1991
Die Farben des Ensembles, rot, vor allem blau, leuchten in der
Helligkeit des Galerieraums. Das Tageslicht fällt durch die Glasseiten
eines Obergadens, der den 17 Meter langen und 6 Meter breiten
Raum durchzieht. Die Länge des Raums und der Obergaden, der 2
Meter in ihn hineindrückt, werfen erhebliche Probleme für die
Installierung des Ensembles auf. Ihre Spur ist in kleinen Zeichnungen
im Ensemble bewahrt, die zwei Figuren zeigen: Die eine hält einen
sich biegenden Zollstock in der aufgereckten Rechten, daneben
verzweifelt Maße protokollierend die andere. Die Herausforderung
des Raums erweist sich als Glücksfall für das Ensemble, für eine
künstlerische Arbeitsweise, die in der Auseinandersetzung mit
einem gegebenem Raum den eigenen als heterotopen entwirft. In
den Galerieraum eingezogen ist eine Lattenwand, die als Bildträger
fungiert. In sie eingepaßt sind alte Fenster: Eins, das in Höhe
der Scheiben des Lichtgadens die Durchsicht auf den dahinterliegenden
Galerieraum gibt, mit dem von der Rückseite in Spiegelschrift
aufgebrachten Monogramm A.O. und der Jahreszahl 91 und vier weitere,
die einen Erker bilden. Sie sind teilweise verspiegelt, zum Teil
rot und blau übermalt. Zwei Felder ermöglichen den Durchblick
in den Raum dahinter und umgekehrt.
Spiegel und Fenster zitieren den Umraum in das Ensemble, der auch
in Bildausschnitten darin präsent ist. Der durch Wände und weiße
Podeste markierte Ort ist zugleich abgegrenzt und durchlässig,
öffnet und schließt sich in Durchblicken und Spiegelungen, setzt
Innen und Außen in Bildschnitten an- und ineinander.
Durch das zwischen Decke und Obergaden in der Lattenwand installierte
Fenster mit dem Monogramm sieht man von der Tür her blaue Lichtstreifen
an der Decke des Galerieraums hinter dem Ensemble. Blau übermalte
Folien als Membran zwischen Außen und Innen nutzen den Lichtgaden
als Bestandteil der Installation. Der blaue Lichteinfall intermittiert
und lenkt den Blick auf ein Bild an der Rückwand des Galerieraums,
ein Porträt Annas durch die Tür des Glasschreins mit rot und blauer
Bleiverglasung. Seine Ansicht und Farbigkeit wird in vielfachen
Brechungen wiederholt. Mit dem Erker, neben dem er postiert ist,
wird er als Raumelement zitiert und verdoppelt. In beiden und
ihrem gemeinsamen Umfeld sind kleine Zeichnungen, Fotos und Texte
angeordnet. Ihre Montierung auf Holzklötzchen stellt sie dem Betrachter
in den Blick. Die Geste des Herzeigens wird zugleich durch den
nur begrenzt einsehbaren Ort, durch die kleinen Formate und ihre
Fülle unterlaufen. Einiges kehrt in den großen Bildformaten wieder,
die dicht an dicht an Wänden, am Boden und an der Decke installiert
sind. Während die Bilder an den Wänden und am Boden jeweils eine
Ausrichtung haben, folgen die an der Decke verschiedenen. In der
locker asymmetrischen Hängung stehen, aus jeder Richtung betrachtet,
einige kopf, einige quer. Nimmt man sich nicht mit hinein in die
Bewegung des Sehens, verdreht's einem den Kopf.
Ordnungen und Paradoxe
An einem Nachmittag in Annas Arbeitsrefugium, allein mit dem Ensemble,
habe ich versucht, meine Sehbewegungen mit der Kamera zu fixieren.
Die letzte Aufnahme des Films zeigt meine Hand mit einem Ektachrom
einer Gesamtansicht, das zufällig herumlag. Gegen einen strahlend
blauen Himmel draußen sind darauf nur noch farbige Punkte zu erkennen.
Anna nimmt diese Aufnahmen ins Ensemble herein: Gezeichnet, gemalt,
in unterschiedlichen Formaten begegnet mir in Kiel mein fixierter
Blick, in dem sich der aufs Ensemble gegen das Blau des Himmels
auflöste.
Eine Beischrift übersetzt ihn in das Spiel der Facetten: »Versuch,
das Blau an den Himmel zurückzulügen«. Der Blick wird als Projezierung
lesbar und Bestandteil einer Szene. Die Umkehrfigur darin ist
eine Volte gegen ein aufklärendes Sehen, den totalisierenden Blick,
der das Spiel auf die Wahrheit einer Perspektive zu reduzieren
versucht. Gibt es eine Wahrheit des Sehens? »Wenn du sagst, daß
du lügst, und du sagst die Wahrheit, lügst du" ist ein klassischer
Satz, der Paradoxstrukturen, wie sie Anna in ihrem Ensemble verwendet,
entwirren möchte. Zugleich aber bildet er sie ab. Beschreibt er
die Wahrheit der Lüge, die Lüge in der Wahrheit? Die Reflexivität
des Paradoxons ist eine offene, sie stellt dar und sagt nicht
aus. Das Paradox ist ein Phänomen, das die Grenzen der Bezugssysteme,
in denen es auftritt, verkehrt und öffnet.
»Wenn du sagst »Hügel««, unterbrach die Königen, »ich könnte dir
Hügel zeigen, mit denen verglichen du diesen ein Tal nennen würdest«
zitiert Anna die Red Queen aus Lewis Carolls »Alice hinter den
Spiegeln« in das Ensemble. Alices Einspruch, daß das Unsinn sei,
kommentiert die Red Queen: »Du kannst das »Unsinn« nennen wenn
du willst, aber ich habe Unsinn gehört, mit dem verglichen das
so vernünftig ist wie ein Wörterbuch.« Vor Alice erstreckt sich
eine in rechteckige Felder unterteilte Landschaft. So schnell
sie auch rennt, es gelingt ihr nicht, sie in gerader Linie zu
durchqueren.
Obwohl die rechteckigen Bildformate an Wänden und am Boden des
Ensembles meist schachbrettartig aneinander grenzen, wird der
Betrachter bei der Durchquerung ihrer vermeintlich geometrischen
Ordnung ebenso Schwierigkeiten haben wie Alice.
Eingestreut am Boden finden sich in der Kieler Version blaue und
rote Glasscherben, die einerseits ein fragmentiertes Echo auf
das rote und blaue Glas des dreieckigen Schreins sind, zum anderen
lassen sie sich zum Diagramm eines Kaleidoskops in Beziehung setzen,
das auf einem großen Tableau augenfällig in vorderster Reihe ausgelegt
ist.
Ausgehend von den Elementen Farbigkeit, Glas, Spiegelung, von
der Struktur des Zerlegens und Wiederholens hat Anna in einer
ihre Arbeit begleitenden und sie eingreifenden Reflexionsbewegung
den Begriff Kaleidoskop für sich ausprobiert. In Kiel tauschen
wir unser Material zu dem von ihr ins Spiel gebrachten Stichwort.
Ich hab' ihr eine Fotokopie aus einem alten Brockhaus mit einer
genauen Beschreibung und dem Diegramm eines Kaleidoskops mitgebracht,
das sie mit roter Farbe auf die Leinwand überträgt, sie gibt mir
eine Pappe, auf der sie ihre Überlegungen notiert hat. Grundbestandteile
des Kaleidoskops sind im spitzen Winkel zueinander gesetzte Spiegel,
an die durchsichtiges und mattes Glas angrenzt. Die Konstruktion
sorgt für die prismatische Zerlegung der eingeschlossenen Objekte.
Für den Betrachter ergänzen sich Objekte und ihre Teilansichten
zu einem symmetrischen Muster, dem »schönen Bild« (Kaleidoskop
= Schönbildschauer). Die Grundelemente des Kaleidoskops finden
sich in dem dreieckigen Glasschrein, den die »Legende« zum »Das
Blaue vom Himmel herunterlügen« unter die Ausgangsobjekte des
Ensembles zählt. In ihm werden die Reflexe, darunter die seines
farbigen Glas, nach dem Spiegelgesetz zerlegt und vervielfältigt.
Der Nahblick in den Schrein kehrt in Zeichnungen und auf Leinwänden
wieder. Er wird selbst in den Prozeß einer Zerlegung und Vervielfältigung
gezogen, die für Annas Ensemble charakteristisch ist. Auf einigen
Bildern dieses Nahblicks ist die Spiegelung einer sternförmigen
Aussparung in der roten Randeinfassung der Schreintür zu sehen.
Ein Ideogramm rückt diesen Stern in die Abfolge der Grundfiguren
des Ensembles. Auf einigen Bildern erscheint darüber in Blau ein
Auge skizziert. Es markiert die Positionierung des Augenpunkts,
vielleicht auch das Auge der BetrachterIn. Zugleich ließe sich
bei der Überlagerung des Sterns durch das Auge an eine weitere
Zerlegung denken: »Augen-Stern«, so daß die Überlagerungsfigur
als Bilderschrift zu lesen wäre. Überall im Ensemble mischt sich
die Schrift ein, überlagert und hinterlegt die Bilder. Nur selten
als Erläuterung des Bilds selbst zu lesen, erzeugt sie am Ort
ihres Auftretens Dissymmetrien, die den Betrachter andere Bezüge
- zum Titel, zu anderen Teilen des Ensembles aufnehmen läßt. Die
Herstellung der Bezüge bestimmt den Rhythmus der je eigenen Lektürebewegung
durch die Bilderschrift des Ensembles. Das Wortbild »Augenstern«
im Nahblick in den Schrein lese ich als Verweis auf das, was er
hütet: Ein anderes Ausgangsobjekt des Ensembles: »Ein Foto - Anna
O., Januar 1976, besonders unvorteilhaft, im Seitenprofil. Der
Text auf der Rückseite des Schnappschußfotos, geschrieben mit
blauem Filzstift, weist es als Geburtstagsgeschenk aus: 'Gutschein:
Einen Tag machen, was Anna will! gez. Alex'. Erinnerungen an ferne
Zeiten spezieller Mutter-Sohn Beziehungen werden wach...«(3).
Mitten in der Rekonstruktion sich kreuzender Lektürebewegungen
muß ich hier einhalten, im Raum nebenan das schreiende Kind, das
krank ist, das Kind, das meine Arbeits- und Wahrnehmungsformen
so gründlich durcheinanderbringt, dessen Existenz wohl nicht unbeteiligt
daran ist, daß die Mutter-Sohn-Beziehung mit Fotos und Zeichnungen
weitere Facetten hinzugewonnen hat...
Anschließen könnte ich mit der Beschreibung einer Zeichnung, in
der Annas Haar mit den Zweigen einer Weide ineinandergeblendet
in eine Skizze von ihrem Sohn übergeht; ich könnte den gezielten
Widerspruch in der Kombination von Schrein und »A.O. Porträthäßlich«
aufnehmen (Anna: »der sentimentale Schmalz verlangt nach einem
trockenen Brötchen«). Ich könnte seinen Variationen durch das
Ensemble folgen, in denen es selbst als Ensembleteil neben dem
Ausriß eines Traklzitats wiedergeben ist, das von der »blauen
Höhle der Kindheit« spricht, und einen Exkurs über die Farbe Blau
im allgemeinen einschieben, oder der Frage nachgehen, die die
Aneignungsform des Blicks des anderen, des Sohns auf die Künstlerin
aufwirft, wenn sie das Foto, das er gemacht hat, aufnimmt und
variiert...Halt! rufen Sie, halt! Mit Recht. Wie kann es ein Text
mit den Seh- und Lesebewegungen, die das Ensemble herausfordert,
aufnehmen, wie kann er die Simultaneität in der räumlichen Präsenz
aufnehmen, Schnitte, Sprünge nachvollziehen? Nichts scheint hoffnungsloser
als das Unterfangen, sich von Motivdeutung zu Motivdeutung verbissen
durch die Fülle des Materials zu arbeiten, obwohl die lange Beschäftigung
mit dem Ensemble und die Gespräche mit Anna meinen Zettelkasten
überquellen lassen.
Zurück zum Kaleidoskop also, das uns über die farbigen Scherben
am Boden in den äußerten Winkel des Ensembles geführt hat, den
Winkel, den die Seitenwände des Schreins bilden. Der in die Lattenwand
neben ihm eingelassene Erker wiederholt ihn. Tritt man von der
Rückseite an ihn heran, kann man die in ihm arrangierten Zeichnungen
und Fotos zwischen dem rot und blau eingefärbten Glas durch Spiegelungen
vervielfältigt sehen. Eingespiegelt wird aber auch, was sich vor
dem Ensemble befindet und bewegt, ohne in die geschlossene Symmetrie
des Kaleidoskopeffekts einzutreten. Was Anna zum Kaleidoskop notiert
hat, hebt das als einen Punkt der Differenz hervor: »Öffnung des
Systems durch Einwirkung anderer (Zufall) sind erlaubt und gewünscht.«
Auch die weiteren Punkte stellen keine Äquivalenz her, sondern
markieren Unterschiede. Zu allererst: »Symmetrie ist verboten«.
Symmetrie ist eine Ordnungsfigur, die immer auch ein Moment der
Stasis enthält, den Blick arretiert, vielleicht auch heimlicher
Garant ist für den gesicherten Überblick des Betrachters, der
das - illusorische - Einheitsgefühl im Selbst stabilisiert.
»Zerstückeltes und Wiederholtes und neu Zusammengesetztes werden
in einem Muster vereint, also wieder in eine geometrische Einheit
gebracht.«, merkt Anna kritisch zum Kaleidoskop an. Während sie
die Struktur der zerlegten Flächen und der Flächenschnitte interessiert,
betont sie entschieden das Konzeptionelle ihrer Verwendung in
der eigenen Arbeit. »Nicht der Spiegel, sondern mein Blick entscheidet
über Schnittstelle, Vergrößerung, Verkleinerung, Veränderung der
Proportionen.« Sie setzt das eigene Auge in die Position des Spiegels
ein, den aktiven und reflexiven Blick, den das Ensemble von ihr
wie von jedem anderen Betrachter verlangt. Bilder, die immer wieder
einzelne Elemente des Ensembles in anderer Gruppierung vorstellen,
zeigen diesen Blick bei der Arbeit. Während sich durchaus oft
sagen läßt, welches Objekt den Status des Ausgangsobjekts hat,
ja als solches durch die »Legende« zum Ensemble ausdrücklich genannt
wird, werden Ableitungsfiguren, die eine zeitliche Folge zu rekonstruieren
suchen, obsolet. Auf den Raum bezogen macht es wenig Sinn, die
Simultanität der Objekte in Vor- und Nachbild, in »Original« und
Reproduktion zu zerlegen. Ist das Foto das Original zur Zeichnung,
die Zeichnung als Objekt unter Objekten das Original zu der übermalten
Fotoleinwand, die den Ensembleausschnitt zeigt?
In der Figur, die das Kaleidoskop aus den Teilansichten der eingeschlossenen
Objekte zusammensetzt, werden die gespiegelten Objekte selbst
als Bild mitgezählt. Das Objekt erzeugt im rechten Spiegel ein
Bild. Für den Spiegel links verhält sich diese Spiegelung wieder
als Gegenstand. In diesem Hin und Her läßt sich der Status von
Objekt und Bild, von Bild und Abbild nicht mehr fixieren. Eine
Täuschung? Stehen Bilder, Kunst überhaupt, seit Platon nicht im
Verdacht, bloß Trugbilder zu entwerfen?
»Beim Malen muß man die Idee des Wahren mit Hilfe des Falschen
vermitteln (Degas)«, wird ebenso ins Ensemble zitiert wie Oskar
Wildes Aufforderung, es gelte die verlorene Kunst des Lügens zu
kultivieren. Im Patchwork der Zitate haben sie ihren gleichrangigen
Auftritt zwischen anderen Reflexionspartikeln, die den Anspruch
auf Wahrheit in Repräsentationssystemen überhaupt beleuchten.
Ein Lyotard-Zitat, daß sie Anmaßung der Männer thematisiert, den
Sinn zu konstituieren und das Wahre zu sagen (4), gerät selbst in den Strudel von Wahrheit und Täuschungen:
Eine Besucherin insistiert, daß es von Luce Irigary sei. Anna
streicht den einen Namen aus und ersetzt ihn, streicht den zweiten
Namen auf meinen Einspruch wieder durch und setzt darunter wieder
den ersten. Unter die Ausstreichungen setzt sie ein rotes Quadrat.
Von der Operation, unter der sich Anna verletzt hat, bleiben ein
paar Blutstropfen als Spur zurück. Das Zitat als Ausschnitt, Schnitt
in den Text, aus dem es ein Stück abbildet und in einem anderen
Kontext im Raum des Ensembles auftreten läßt, zieht von sich aus
die Zuschreibung, die »Autorschaft« als Garant eines originären
Ursprungs in Zweifel. Ebensowenig wie sich der Status von Bild
und Abbild in der Division und Multiplikation dingfest machen
läßt, läßt sich der der Zitate fixieren: Sie lösen sich in der
Bilderschrift des Ensembles aus ihrer Zuschreibung.
Mitunter benutzt Anna die Schrift, um ein Bild zurückzunehmen,
ja, das eigene Werk durch die Überschreibung fast zu löschen.
Im Fall eines Tableaus, das einen Ausschnitt des Ensembles mit
dem »Porträt A.O. - häßlich -« zeigt, ist die Widmung von der
Rückseite über das Bild gelegt. Ins Bild tritt sein Revers, die
Schrift, die Schrift des anderen als das Andere der Bilder, das
sie überlagert, durchkreuzt, unterbricht.
(1) Anna Oppermann, Dilemma der Vermittlung. In: Karl-Hofer-Symposium: 1979 Grenzüberschreitungen,
Berlin 1980, S. 42
(2) (vergl. dazu auch Einleitung, Anmerkung 2)
(3) Anna Oppermann in: Blau-Farbe der Feme, Heidelberger Kunstverein. (Kat.) 1990, S.
492. Eine Kopie der Seite ist in Kiel neben dem Ensemble ausgelegt.
(4) vergl. Schriftbild rechts vorn in Abb. 127
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