Anna Oppermann: Das, was ich mache, nenne ich Ensemble

in the catalog: Anna Oppermann Ensembles 1968-1984, Hamburg and Brussels 1984, pp. 28-29 (also published in: Spurensicherung, Loccumer Protokolle 55/84, Loccum 1985, pp. 194-201; a major part of the text has first been published 1979 in: Dilemma der Vermittlung, Karl Hofer-Symposion 1979 - Grenzüberschreitungen, in: Schriftenreihe der Hochschule der Künste Berlin Vol. 2, Berlin 1980, pp. 35-61)

Auf den ersten Blick ...

Über die Methode:

Die Methode hat sich entwickelt aus ...

Die Themen meiner Ensembles ...



[***] Auf den ersten Blick sieht die fotografische Abbildung eines Ensembles vielleicht wie ein abstraktes Gemälde aus, auf den zweiten Blick wird man erkennen, daß es sich um flache und nichtflache, farbige und nichtfarbige Gebilde handelt, die, zusammen arrangiert und den Raum einbeziehend, so etwas wie ein Environment bilden. »Ensemble« heißt im Französischen »zusammen«, und davon abgesehen, daß ich im Ensemble gern über andere und daher auch mit ihnen zusammenarbeite, sind hier Pflanzen, Podeste, Skizzen, Zeichnungen, Bilder, kleine Plastiken, Fotos, Fotoleinwände, Texte zusammen arrangiert. Man erkennt auch ein paar Details, die durch Vergrößerungen und Wiederholungen stark hervorgehoben sind, und umgekehrt Zusammenfassungen von Arrangements früherer Zustände auf Fotoleinwänden, wo Details, nur noch von mir entzifferbar, zu abstrakten Gebilden zusammenschrumpfen .

Was man auf
den Abbildungen [der Abbildung] nicht erkennt, ist, daß [hier] nicht nur unterschiedliche Bildebenen, Realitätsebenen, Ausdrucksformen, Medien zusammen arrangiert sind, sondern auch Darstellungen -- visualisiert oder artikuliert -- verschiedener Bewußtseinszustände, Bewußtseinsebenen, Bezugssysteme (Bewertungsräume), Metaebenen. Weniger prätentiös, aber ungenauer, könnte man sagen: Es gibt nebeneinander Offenes -- Geschlossenes, Unfertiges -- Fertiges, Irrationales -- Rationales, Triviales -- Elitäres, Privates -- Allgemeines, Albernes, Brutales, Tradiertes -- Progressives, Geheimnisvolles -- Klares, Dummes -- Kluges, Kitschiges, Sinnliches, Idyllisches, Abstraktes und Theoretisches (Wissenschaftliches). Es gibt Kommentare von mir und anderen, Umgangssprache, Subsprache, gut Formuliertes. Es gibt sich Entsprechendes, sich Widersprechendes, sich Bedingendes, sich Ergänzendes, dem jeweiligen Ensemblethema zugeordnet, aber auch alles zusammenfassende Definitionen. Das heißt, um dem Betrachter das scheinbare Chaos zu lichten, gibt es auch Übersichts- und Themenpläne und Diagramme sowie einfache, simplifizierende Texte zur Entstehungsgeschichte des Ensembles und zur Methode allgemein, die dem Ganzen zugrunde liegt.



Über die Methode:

Im Zentrum des Ensembles befindet sich ein reales Objekt -- am Anfang ein Fundstück aus der Natur, z. B. ein Laubblatt (später Menschen, Begebenheiten, Konflikte, Probleme). Ausgehend von diesem Objekt, entwickeln sich nachfolgende Zustands-, Bewußtseins- und Handlungsphasen.

1. Meditation:
Die Konzentration in der Meditationsphase wird unterstützt durch naturalistische Detailzeichnungen vom Objekt.

2. Katharsis:
Diese ist vergleichbar dem Automatismus der Surrealisten oder dem Brainstorming. Das meint hier ein möglichst spontanes, z. T. automatisches Reagieren und Assoziieren auf das Objekt, um unbewußte Äußerungen zu provozieren und sie soweit wie möglich in Form von Skizzen und Notizen zu fixieren. Dies ist eine Phase propulsiver Ausdehnung, in der alles zugelassen ist, auch Darstellungen, die, gemessen mit künstlerischen oder allgemeineren Bewertungskriterien, normalerweise nicht gestattet sind. Der Einfallsreichtum soll dadurch begünstigt werden, daß zunächst keine Beurteilung bzw. Kritik der Äußerungen hinsichtlich ihrer Qualität und Tauglichkeit erfolgen darf. Ergebnisse dieser Phase werden in öffentlichen Ausstellungen nur auszugsweise oder schwer zugänglich präsentiert, da sie oft zu privat, dummdreist oder läppisch sind.

3. Reflexion oder Feed-back aus der Distanz:
Im visuellen Bereich: zusammenfassende Fotos und Zeichnungen, um die Distanz und einen Überblick zu ermöglichen; im verbalen Bereich: individuelle Deutungen und auch wieder Assoziationen, im Hinblick auf mögliche Ursachen und Motivationen, Sammlung von Zitaten, die dem Thema entsprechen.

4. Analyse und Herstellung eines Gesamtbezugs:
Details und Zwischenergebnisse werden in Gruppen zusammengestellt, konfrontiert, verglichen mit verschiedenen Bezugssystemen, Bewertungsräumen (mit Texten aus dem Bereich der Philosophie, Psychologie, Soziologie usw.). Die Zeit spielt eine besondere Rolle, insbesondere auch bei der notwendigen Gewinnung von Distanz, und so erstreckt sich die Entstehung und Modifikation vieler Ensembles über mehrere Jahre, ist theoretisch nie abgeschlossen. Ein zusammenfassendes Foto eines Ensembleaufbaus ist als sogenanntes Bezugsfoto zusammen mit dem realen Objekt Ausgang für weitere Bemühungen. [
-- Abbildung 2 --]

Bei all dem wird, von einem Punkt, dem realen Objekt, ausgehend vom Einfachen zum Komplizierten, vom Privaten zum Allgemeinen, vom Konkreten zum Abstrakten mit der Zeit der Radius des Interessen- und Problemkreises immer weiter gefaßt.

Kunst ist bei mir primär nicht vermarktbarer Wandschmuck, sondern so etwas wie Mittel zum Zweck von Lebensbewältigung -- einfacher gesagt: um Probleme in den Griff (Begriff) zu bekommen, Konflikte zu bewältigen. In diesem Kontext spielen, wie es wohl schon deutlich wurde, auch traditionelle, also schon bekannte Entäußerungs-, Kompensations- oder Entspannungsrituale eine Rolle, die eigentlich jeder, zumindest ein bildender Künstler, wohl gut kennt.

Allerdings belasse ich es nicht dabei, sondern ich untersuche und erforsche mich selbst und meine Umgebung anhand des gesammelten, erlebten oder vorgefundenen Materials in einem abgesteckten Rahmen mit einer bestimmten Methode, und die Entstehungsgeschichte, mögliche Resultate oder Definitionen sind in den aufgebauten Ensembles einsehbar, nachvollziehbar, nachprüfbar.

Mein Vorgehen unterscheidet sich dennoch von dem eines Wissenschaftlers ganz wesentlich dadurch, daß ich mich selbst nicht etwa heraushalte (meine persönlichen Belange, Empfindlichkeiten usw.); im Gegenteil: am Anfang zumindest steht das Bemühen, selbst zu sehen, zu fühlen, zu verstehen, wobei ich davon ausgehe -- und das ist der erste Anlaß einer Untersuchung --, daß man in vielem, ohne es zu ahnen, fremdbestimmt ist und daß in der spontanen Phase häufig sehr viel zum Vorschein kommt, was allgemein, alltäglich, stereotyp, standardisiert, gewöhnlich ist und nicht gerade dazu angetan ist, das narzißtische Größenselbst zu nähren.



Die Methode hat sich entwickelt aus den Fragen warum, weshalb, wie bin ich, sind die anderen, die Umstände so, angesichts eines bekannten Dilemmas. Dieses Dilemma ist die Schwierigkeit des einzelnen angesichts der heutzutage bestehenden Informations- und Reizüberflutung -- sei es nun im Hinblick auf ein spezielles Problem oder auch im Hinblick auf die Konstituierung einer allgemeinen Lebenseinstellung (die beim Künstler ja wohl in seinem »persönlichen Stil« zum Ausdruck kommen soll).

Denn
man hat gelernt [zum einen hat man gelernt], gegenüber spontanen, subjektiven, intuitiven Reaktionsweisen, die auf einem individuellen Erfahrungs- und Veranlagungshintergrund basieren sollen, mißtrauisch zu werden, seitdem man weiß, daß man ständig gewissen Manipulations- und Werbemechanismen ausgeliefert ist, und seitdem die Psychologie und auch die Soziologie individuelle Entäußerungen nicht unbedingt in dem Bereich Genie, sondern eher im Bereich der »Macke«, »verrückt«, »zwangsneurotisch«, »egozentrisch« ansiedeln. [Hierzu ergänzend möchte ich sagen, daß] Dieses Mißtrauen [hat] bei mir persönlich die Reflexions- und Verbalisierungs-, Vermittlungsbemühungen provoziert [hat], die ich für spannend und wichtig halte, auch bei anderen Künstlern. Grundsätzlich aber bin ich schon auf der Seite der Außenseiter, Danebentypen: nur nicht als Genieendziel von Kunstmarktstrategen auf einen hohen Sockel gehievt. [***]

Es gibt zur Zeit mehr als 50 [inzwischen sind es ca. 70] mehr oder weniger komplex behandelte Ensembles. In der nachfolgenden Übersicht werden verschiedene Präsentationen (meist der Anfang, frühere Aufbauten und ein ausführliches Arrangement) fotografisch dokumentiert. Weiter wird die jedem Ensemble zugehörige Bezugspflanze genannt, und es werden teilweise die im Ensemble behandelten Themen, Unterthemen und die Stichworte, zu denen ich gezielt für das Ensemble sammle, aufgelistet. Außerdem sind Erläuterungen zum Thema des Ensembles, die ich für die Betrachter geschrieben habe, Interviewausschnitte von mir zu den spezifischen Arbeiten und Zitate, die im Ensemble enthalten sind, beigefügt.



Die Themen meiner Ensembles beziehen sich auf Probleme des Künstlerdaseins; allgemeiner: auf Daseins- oder Lebensformen, Erkenntnismöglichkeiten (auch über den Bauch), auf Formen menschlichen Zusammenlebens. Zuweilen kommen Dinge auf den Tisch, die mancher nicht gern hat. Die Form des Ensembles ist mein Interaktionsangebot. Einigen erscheint es subjektivistisch, autistisch, monoman. Dabei wäre ich gern Vermittler zwischen den verschiedenen Disziplinen, zwischen Ratio und sinnlicher Wahrnehmung, zwischen Kunst und Wissenschaft, Normalbürger und Außenseiter.



*[the section published already in 1979 starts and ends with [***]. The few slight deviations in the readings have been marked with colors.
Red indicates the version from 1984, yellow the one from 1979]


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