Unsicher blicken wir auf die Farb- und Formfülle, die unübersichtliche
Flut von Bildern und Bildmotiven, Objekten, Zeichnungen, Fotografien
und Schriften, die sich vor uns in den Raum ergießen und an den
Wänden emporwachsen. Irritiert durch die unerhörten Größen- und
Distanzunterschiede, viel- und kleinteilige Bildmotive neben riesig
vergrößerten Details, winzige Zettel neben großen Bildern, treten
wir suchend näher und erkennen verblüfft die Ähnlichkeit zwischen
den Einzelelementen und dem gesamten Bildraum. Auf einem Großteil
der Bilder, Zeichnungen und Fotografien sind Stilleben aus Fundstücken,
Zeichnungen, Bildern und Fotografien festgehalten. Wir stehen
vor einem Arrangement verschiedenster Ansichten von Arrangements,
in denen sich Farben, Formen und einzelne Motive vielfach zu wiederholen
scheinen. Die anschließende Recherche der motivischen Wiederholungen
im Ensembleraum aber bringt bald heraus, daß hier nichts gleich
gegeben ist, daß alles Wiederholte sich immer anders zeigt, aus
anderer Perspektive oder in Kombination mit neuen Motiven und
Texten. Die räumlichen und motivischen Kontexte bedingen die Lektüren
jedes Bildteilchens und schon der kleinste Blickwechsel verändert
seine Ansicht, seine Bedeutung im Kontext.
Unser anfängliches Erstaunen ist nachhaltig, es löst sich an keiner
Stelle auf. Im Gegenteil. Je eingehender wir uns mit einem Ensemble
beschäftigen, seinen Fährten und Bildangeboten folgen, desto häufiger
stoßen wir auf Ungewisses, öffnen sich Abgründe. Beunruhigend
deutlich nämlich wird, daß die Bildfluten unermeßliche Bildmengen
verschlungen haben, daß wir nichts ganz oder vollkommen gegeben
finden. Alle bildlichen und textlichen Informationen sind entweder
im Anschnitt oder in verdrehten Ansichten gezeigt, oder sie sind
hinter anderen Bildelementen, in den zeitlichen Lücken und räumlichen
Brüchen des Werks verborgen. Der riesigen Menge an Bildzeichen
gesellt sich eine unerhörte Menge sich entziehender, verschwindender
Zeichen zu.
Ein Ensemble erweist sich als in den Raum entfalteter, synchron
geschichteter zeit-räumlicher Bildprozeß. Wohl finden wir eine
Art Zentrum, die Ballung und Verdichtung des kleinteiligen Bestands
in einer Raumecke, aber keinen definierten Anfangspunkt, der linear
zu verfolgen wäre. Zwar gibt es Ränder, aber die Begrenzungen
sind gebrochen und unbestimmt, lassen das ganze Bildwerk wie ein
riesiges, fortführbares Fragment aus Fragmenten erscheinen. Es
fordert uns zur immer neuen Annäherung, zum Blick- und Richtungswechsel
heraus. Wir suchen die Nähe, konzentrieren uns auf Details, um
sie zu entziffern, stoßen auf neue Bedeutungsfacetten. Wir suchen
den Vergleich, um unsere Lektüren zusammenzustellen, um Kombinationsmöglichkeiten
zu erproben. Und wir suchen die Distanz, um - immer nur vorläufige
- Übersichten zu gewinnen. Damit aber hat uns das Ensemble verführt:
Wir haben uns unversehens auf einen Betrachtungs- und Verstehensweg
begeben, der dem Werk zugrunde liegt und in ihm verzeichnet ist.
Wir führen Anna Oppermanns Bewegungen durch Raum und Zeit, ihre
Wechsel zwischen Nähe und Distanz, zwischen Fokussierung und Kombination,
zwischen Wiederholung und Verschiebung, zwischen Einsicht und
Übersicht beim Gang durch das Werk fort.
Mehr als sechzig Ensembles hat die Künstlerin von den ausgehenden 60er
Jahren bis zu ihrem frühen Tod in langjährigen Arbeitsprozessen
entwickelt, mehr als dreißig der Arbeiten bestehen heute aus mehreren
hundert Einzelteilen. Jedes Teilstück hält eine Facette oder eine
Station der Wahrnehmungs-, Forschungs- und Deutungswege fest,
auf die sich die Künstlerin zu Fragestellungen wie »
Frau sein«, »
Künstler sein«, »
Anders sein«, wie »
Liebe, Erotik, Sex«, dem »
ökonomischen Aspekt« oder die »
Paradoxen Intentionen« (des Kunstmachens) begab. Auf diesen Wegen
scheint (fast) alles erlaubt gewesen zu sein. Überraschten schon
Menge, Größenunterschiede und Perspektivwechsel, so noch mehr
der genaue Blick ins Inventar: Ein Ensemble versammelt nicht nur
annähernd alle künstlerischen Medien und Gattungen - vom Fundstück
über Zeichnung, Malerei, Fotografie, Schrift bis Plastik und Architektur
-, sondern zeigt sie auch in stilistischer Vielfalt. Naturalistische
Zeichnungen finden sich neben flüchtigen thematischen Skizzen,
schematischen Studien und Diagrammen. Porträtfotos und Fotofundstücke
aus dem Alltag tragen neue Motive in das Ensemble, während viele
schwarz-weiße oder farbige Fotografien vorrangig die Werkentwicklung
zu dokumentieren scheinen und Polaroids flüchtige Eindrücke von
Arbeits- und Aufbauphasen wiedergeben. Auffällig unterscheiden
sich auch Textsorten und -arten: Schreibschriften, Druckschriften
und gedruckte Schriften in wechselnden Größen halten Literaturzitate
und Abschriften philosophischer, psychologischer, sozialwissenschaftlicher
oder naturwissenschaftlicher Texte fest. Eingestreut in das Arrangement
werden ferner ausgerissene Zeitungsmeldungen und handgeschriebene
Notizen auf Zeichnungen und Bildleinwänden lesbar.
»Ich wollte mich nicht entscheiden«, vermerkt Anna Oppermann 1986,
»was im Hinblick auf die Aussage wichtiger oder als besser gelungen
zu bezeichnen sei: das reale Objekt, die Skizze, die gedankliche
Auseinandersetzung, oder das fertiggestellte Bild. Jedes Teil
hatte etwas, was dem anderen Teil fehlte.« Stilpluralismus ist
nicht nur sichtbares, sondern erklärtes Kennzeichen der Ensembletätigkeit.
Doch die erstaunliche Vielfältigkeit ist nicht einfach »beliebig«,
sondern aussageorientiert: »Jedes Teil hatte etwas, das dem anderen
fehlte«. Grundsätzlich erkennt die Künstlerin also ein Ungenügen,
die Ambivalenz und Kontextgebundenheit jeder Aussage, die Unsicherheit
jeder Erkenntnis, jeder Klassifizierung und Ordnung an. Sie spürte
der Wandelbarkeit der Ansichten, Deutungen und Beziehungen der
Dinge, Wörter und Bilder nach, zeigt wie Blickänderungen die Aussageinhalte
verschieben, enthüllt über unterschiedliche Darstellungsweisen
eklatante (Be-)Deutungsunterschiede.
Doch es genügt nicht, das künstlerische Ziel der Ensemblekunst
hiermit erklären zu wollen. Denn es geht Anna Oppermann weniger
um die Darstellung der unerschöpflichen Aussagemöglichkeiten und
ihrer prinzipiellen Gleichgültigkeit als vielmehr um die Visualisierung
der Möglichkeit und Notwendigkeit, Aussagen zu machen und Entscheidungen
zu treffen angesichts der Fülle der Möglichkeiten, eingedenk der
Komplexität und Vorläufigkeit. Wesentlich nämlich ist, daß - und
wie - sie ihre vorläufigen Ansichten und Schreibweisen überliefert.
Jedes Ensemble ist gleichermaßen ein Ort der Tradierung und potentieller
zukünftiger Fortschrift. Weit davon entfernt, bloße Abbilder unserer
informationsüberfluteten Wirklichkeiten oder Archive der materiellen
wie ideellen Pluralität der Welt zu sein, führen uns ihre Ensembles
in ausgewählte Zwischenräume des Wirklichen, in - fortsetzbare
- Wahrnehmungs-, Besprechungs- und Bewertungsräume der Welt.
Im Zentrum ihrer Auseinandersetzung steht die »Realität des Alltags«,
stets ist es »ein Stück Realität«, dem sie sich beobachtend, denkend
und urteilend nähert - wie sie in vielen Texten zur »Methode«
vermerkt. Ihre wiederholten Hinweise auf die »methodischen« Spielregeln
der Ensembleprozesse versuchen vor allem den häufig geäußerten
Vorwurf der Beliebigkeit und des Subjektivismus zu entkräften.
Sie zeichnet hier ihre Prozeßbewegungen nach, die vom »relativ
Einfachen« zum »relativ Komplizierten« verlaufen und hebt hervor,
daß Fülle und Vielfalt der Äußerungsformen nicht einfach zugelassen,
sondern strukturiert und reflektiert werden, daß fortlaufende
Besichtigung und Beschreibung mit Fokussierung, Kombination und
Selektion verbunden wird. Folgen wir kursorisch dem beschriebenen
Weg, entdeckt sich noch besser ihr eigentliches Anliegen: Die
Visualisierung eines verändernden Wahrnehmens und Denkens um die
Bruch- und Nahtstellen des Sicht- und Denkbaren.
In der Tat hat jedes der über Jahre gewachsenen Ensembles einen
erstaunlich einfachen - zeitlichen und räumlichen - Beginn. Alle
bildlichen und sprachlichen Entdeckungsreisen Anna Oppermanns
sind durch je eigene »Ausgangsobjekte« motiviert: Wenige ausgewählte,
unspektakuläre Gebrauchs- oder Dekorationsgegenstände, Blumen-
oder Pflanzenblätter, manchmal ergänzt um einen fotografischen
Schnappschuß, hin und wieder um eine gängige Floskel oder eine
überlieferte Redewendung. So nimmt das Ensemble »Paradoxe Intentionen« seinen Ausgang von Sprichwörtern und Phrasen
zur Farbe Blau, einem funktionslosen, aber kitschig-schönen blauen
Glasschrein, den unscheinbaren Pflanzen Tagetes und Indigo und
einem unvorteilhaften Foto der Künstlerin (vergl. Text u. Abb.
S.
16/
17).
Die Künstlerin arrangiert diese Funde zu kleinen Stilleben auf
einem Tischchen oder einem Podest, exponiert sie vor sich zur
eingehenden Betrachtung. Ihre erste Annäherung bezeichnet sie
selbst als »Meditationsphase«. Vorwiegend in naturalistischen
Detail- und Ausschnittszeichnungen hält sie intensive Studien
der Formen und Farben der Objekte, des ersten Arrangements fest.
Gleich zu Beginn des Ensembleprozesses offenbaren die Ausgangsobjekte
so ihre Unermeßlichkeit. Ungeahnte, rätselhafte Bedeutungen, seltsame
Untiefen und Fremdheiten treten hervor - wie an allem noch so
Gewohnten und Gewöhnlichem, dem wir versuchen, unendlich nahezukommen:
Das vertraute Wort zerfällt bei vielfacher Wiederholung in willkürliche
Buchstaben, die wir nur noch stammelnd zusammenbringen. Am schon
oft achtlos benutzten Gegenstand irritiert plötzlich die Formung,
verunsichert die rohe Materialität. Im Bild, das der Blick so
häufig schon unbeteiligt streifte, verlieren die abgebildeten
Dinge Zusammenhang und Halt, erfaßt uns das hinter ihnen Verborgene,
das Unsichtbare und Ungewisse.
Die nahsichtige »Meditation« vor den Ausgangsobjekten stimmt in
den nächsten Prozeßschritt ein, in dem jede Äußerung zugelassen
sein soll - »so weit wie möglich ohne Berücksichtigung von herkömmlichen
Kunst- und Verhaltensnormen«, führt die Künstlerin aus. »Katharsis«
nennt sie diesen Produktionsschritt, dessen Ergebnisse nur spärlich
in den Installationen zu finden sind, oft von der Künstlerin verborgen
oder entfernt werden. Hier ist nicht »Läuterung« angestrebt, sondern
eine produktive »Reinigung« von Vorurteilen, von übernommenen
Klischees, Stereotypen und Banalitäten. Gerade in der spontanen
Reaktion auf etwas drängen Vorgedachtes und Vorgewußtes heran,
das, was man unbewußt oder bewußt an Ansichten, Blickverstellungen
und Denkrastern mit sich trägt.
Beide Prozeßschritte, die die Künstlerin unter dem Begriff »Primärprozeß«
zusammenfaßt, dienen der Konzentration und der Öffnung. Anna Oppermann
begegnet ihren Fundstücken - offen und erwartungslos, aber um
die eigenen Voreingenommenheiten wissend. Ausgerechnet Exponierung
und Nahsicht entdecken die vorgängigen Signaturen der Dinge, Bilder
und Begriffe, privat-persönliche und allgemeine Bezeichnungen
und Wertungen. Ebenso eindringlich aber tritt auch ihre sprachliche
und bildliche Uneinholbarkeit hervor. Jede Benennung, jede Aussage
balanciert am Abgrund, jede Enträtselung wird Teil eines neuen
Rätsels.
Der Nahsicht folgt die Abstandnahme, ein »Sekundärprozeß«, schreibt
Anna Oppermann. Zunächst unterzieht sie die gesammelten Ansichten
der »Reflexion«, dem »feed-back aus der Distanz«. Die Künstlerin
macht Fotos und Zeichnungen, die ihre Funde und Betrachtungen
zusammenfassen, Übersichten geben. Sie notiert Assoziationen,
sucht und sammelt Bezügliches in den Archiven des kulturellen
Wissens. In der anschließenden »Analyse und Herstellung eines
Gesamtbezugs« bemüht sie sich um Anordnungen, erprobt passende
und konfrontierende Zusammenstellungen. Das Ziel dieses Arbeitsschritts
notiert sie auf einem 1984 entworfenen »Methodendiagramm«: »bestimmen,
fixieren neuer Normen«.
Spannend ist diese Notiz gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen
hebt sie als Anliegen hervor, daß etwas »neu« gesagt werden soll.
Zum anderen spricht sie Entscheidungsfindungen an, verweist auf
die Notwendigkeit, Bestände zu sichten, zu selektieren und zu
kombinieren, um treffende Aussagen festzuhalten. Beides hat Anna
Oppermann in ihren Ensembles eng verbunden. Die »neuen Normen«
- die auf den Bildleinwänden festgehaltenen Konstellationen -
sind ausgewählt und gefügt aus den im Prozeß gesammelten Sensationen
des Unscheinbaren, den Reproduktionen unbedachter Vorurteile,
den Entdekkungen von Verdrängtem, Verschüttetem, ihren distanzierten
Bewertungen, den Fremdäußerungen und Zitaten, die sie beim Blick
in Bibliotheken, Kunstgeschichte und Alltagskultur findet. Schließlich
bleiben aber auch sie Zwischenentscheidungen, vorläufige Ergebnisse,
die dem erneuten Studium ausgesetzt werden. Der Arbeitsprozeß
beginnt von vorn.
Was Anna Oppermann so (er-)findet ist unbekannt, doch nie radikal
neu. Ihre »Methode« wirkt wie ein Zauberstab, der Gewöhnliches,
Bekanntes und Tradiertes auftaut. Die Künstlerin destabilisiert
das Sichtbare, seine Konventionen, Normen und Denktraditionen,
zerlegt sie in ebenso befremdliche wie vertraute Bedeutungsschichten,
um sie zu verwenden, zu verdrehen, in neue Kontexte zu verschieben,
um mit ihnen ein veränderndes Denken um das ausgewählte »Stück
Realität« sichtbar - und besprechbar - zu machen.
Einmal angestoßen, zogen sich einzelne Ensembleprozesse über Jahre,
bisweilen Jahrzehnte hin. Das Ensemble »Paradoxe Intentionen« hat Anna Oppermann erst 1988 begonnen und
sein Bestand wuchs vom oben beschriebenen Ausgangsstilleben bis
1992 - kurz vor ihrem Tod - in mehreren Etappen. Erstmals öffentlich
gezeigt wurde die Arbeit, noch klein in einer einzigen Raumecke,
im Heidelberger Kunstverein 1990 (Abb. S.
15). Nach der Ausstellung arbeitete die Künstlerin in ihrem Celler
Atelier weiter (Abb. S. 20f.). Bereits bei seiner zweiten öffentlichen
Präsentation in der Städtischen Galerie im Sophienhof, Kiel 1991,
war das Inventar des Ensembles um unzählige Zeichnungen, Aquarelle,
Objekte und Bildleinwände angewachsen. Nun installierte sie es
als riesigen »Raum im Raum«, den man betreten und umschreiten
konnte (Abb. S. 27f.). Anfang 1992 bereitete Anna Oppermann die
Verschiffung des Ensembles für seine nächste öffentliche Station
im Museum of Contemporary Art in Sydney vor. Modelle und Entwurfsskizzen
zeigen erste Installationsplanungen. Doch die Ausstellung mußte
verschoben und konnte schließlich erst im Jahr nach ihrem Tod
realisiert werden (Abb. S. 32f.). Es war der vierte posthume Aufbau
eines Ensembles, der zu einer besonders schwierigen »Übersetzungsaufgabe«
für das Aufbauteam wurde. Während der Raum in Kiel, dem letzten
Präsentationsort des Ensembles, weitläufig und hoch war, bot sich
in Sydney ein relativ kleiner und niedriger Aufbauort, der eine
Rekonstruktion von vornherein ausschloß und umfassende Interpretationsleistungen
einforderte, um die zentralen Vorgaben und Ansprüche des Ensembles
sichtbar zu halten. Demgegenüber konnte seine Neuinstallation
im Celler Schloß wieder stärker an Anna Oppermanns letzter Fassung
in Kiel orientiert werden, wenngleich auch hier räumliche Unterschiede
einige Umstellungen bedingten (Abb. S. 6).
Es ist ein überaus lebendiges Archiv, eingelagert in Kästen und
Depots, das Anna Oppermann hinterlassen hat. Denn will man die
Ensemblekunst heute zeigen, muß man sie gerade in ihrer Prozessualität
und Vorläufigkeit, in ihrer Fortschreibbarkeit »wahren«. Die Arbeiten
besaßen und besitzen auch nach dem Tod der Künstlerin keine abschließende,
letztgültige Form und versperren sich hartnäckig jedem Versuch
einer detailgenauen Rekonstruktion. Bei jedem Neuaufbau sind die
Prinzipien und Ansprüche der Arbeitsweise deshalb auf die Interpreten
übertragen. Sie verlangen - soweit nötig - auch neue Lösungen,
den räumlichen und situativen Bedingungen adäquate Verschiebungen
des überlieferten Ensemblebestands. »Ich hasse endgültige, sich
absolut gebärdende Formulierungen«, insistiert die Künstlerin.
Und getreu diesem Diktum hat sie alle ihre räumlichen und bildlichen
Arrangements in einem vorläufigen Zustand belassen. Ihre Kunst
besteht gerade darin, etwas vielfach und ambivalent an- oder auszusprechen,
ohne es auszusagen, es zu Ende zu sagen. Sie schafft Beweggründe,
Motivationsfelder, die für Ergänzungen und Veränderungen offen
sind. Die gesammelten Formulierungen drängen gleichermaßen auf
Lektüre und Fortsetzung.
Und es trifft sich - zufällig? -, daß gerade »Paradoxe Intentionen«, eines der letztbegonnenen Ensembles Anna
Oppermanns, eindringlich ihre Aversion gegen vorlaut erklärte
Erkenntnis und Vollendung belegt. Es steht in Verbindung mit vielen
ihrer Werke, greift Aspekte aus Themenfeldern, die sie schon Jahre
zuvor begonnen hatte aufzublättern. Spiegel und Spiegelungen,
die Brechung und Verfremdung der Realität waren ihr ein »Schlüsselerlebnis«,
das sie in ihrem ersten Ensemble - dem »
Spiegelensemble« (seit 1965) - umkreist. Die Fragen nach Lüge
und Wahrheit reichen direkt aus dem Ensemble »
Pudding oder Seife - Über Ehrlichkeit oder die verschiedenen Aspekte
des Schafs« herüber, aber auch aus einer ganzen Folge von Ensembles
um die Kunst, das Künstlersein, die praktischen und ökonomischen
Aspekte des Kunstmachens. Sie werden - mit einer entscheidenden
Akzentverschiebung - fortgeführt: Kaleidoskopisch aufgesplittert
dreht sich alles im Ensemble um »Schein«, besonders den schönen,
um die magische Fähigkeit, Häßliches in Schönes, Farbloses in
Farbiges zu verwandeln, um Verspiegelungen und allerlei Vorspiegelungen,
um Lüge und Ehrlichkeit in Kunst und Leben. Lustvoll und ironisch
hat Anna Oppermann Hinweise auf die romantischen Aspekte ihrer
Arbeitsweise aufgegriffen, hat ihre eigene Ästhetik aufs Korn
genommen: Die paradoxe Intention einer immer unsagbaren Wahrheit,
der Komplexität des Lebens und der Kunst, mit einer generativen,
unabschließbaren Kunstform zu begegnen, ohne sie schrittweise
erfassen oder ihr beikommen zu wollen. Für diese »Wahrheit« mußte
auch sie lügen, war sogar bereit, schönzufärben, zu verrätseln
und zu verzaubern - zumindest bis zu einem gewissen Grad, denn
aller »Schmalz verlangt nach einem trockenen Brötchen« (vergl.
Text S.16). Und mit »trockenen Brötchen«, mit Unpassendem, Fragwürdigem,
Abgründigem und Anstößigem hat sie uns gut versorgt.
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