Ute Vorkoeper: Zur Fortsetzung - Anna Oppermanns Wahrnehmungs- und Verstehenswege,

in Katalog: "Paradoxe Intentionen (Das Blaue vom Himmel herunterlügen)", Hamburg und Brüssel, 1998, S. 8-14
englische Übersetzung

Bei der ersten Begegnung mit einer der Bildwelten Anna Oppermanns sind wir perplex. Oder sind es die Werke? Sind nicht die »Ensembles« - wie die Künstlerin ihre Arbeiten nannte - ebenso verworren und verflochten wie wir verwirrt und erstaunt?

Unsicher blicken wir auf die Farb- und Formfülle, die unübersichtliche Flut von Bildern und Bildmotiven, Objekten, Zeichnungen, Fotografien und Schriften, die sich vor uns in den Raum ergießen und an den Wänden emporwachsen. Irritiert durch die unerhörten Größen- und Distanzunterschiede, viel- und kleinteilige Bildmotive neben riesig vergrößerten Details, winzige Zettel neben großen Bildern, treten wir suchend näher und erkennen verblüfft die Ähnlichkeit zwischen den Einzelelementen und dem gesamten Bildraum. Auf einem Großteil der Bilder, Zeichnungen und Fotografien sind Stilleben aus Fundstücken, Zeichnungen, Bildern und Fotografien festgehalten. Wir stehen vor einem Arrangement verschiedenster Ansichten von Arrangements, in denen sich Farben, Formen und einzelne Motive vielfach zu wiederholen scheinen. Die anschließende Recherche der motivischen Wiederholungen im Ensembleraum aber bringt bald heraus, daß hier nichts gleich gegeben ist, daß alles Wiederholte sich immer anders zeigt, aus anderer Perspektive oder in Kombination mit neuen Motiven und Texten. Die räumlichen und motivischen Kontexte bedingen die Lektüren jedes Bildteilchens und schon der kleinste Blickwechsel verändert seine Ansicht, seine Bedeutung im Kontext.

Unser anfängliches Erstaunen ist nachhaltig, es löst sich an keiner Stelle auf. Im Gegenteil. Je eingehender wir uns mit einem Ensemble beschäftigen, seinen Fährten und Bildangeboten folgen, desto häufiger stoßen wir auf Ungewisses, öffnen sich Abgründe. Beunruhigend deutlich nämlich wird, daß die Bildfluten unermeßliche Bildmengen verschlungen haben, daß wir nichts ganz oder vollkommen gegeben finden. Alle bildlichen und textlichen Informationen sind entweder im Anschnitt oder in verdrehten Ansichten gezeigt, oder sie sind hinter anderen Bildelementen, in den zeitlichen Lücken und räumlichen Brüchen des Werks verborgen. Der riesigen Menge an Bildzeichen gesellt sich eine unerhörte Menge sich entziehender, verschwindender Zeichen zu.

Ein Ensemble erweist sich als in den Raum entfalteter, synchron geschichteter zeit-räumlicher Bildprozeß. Wohl finden wir eine Art Zentrum, die Ballung und Verdichtung des kleinteiligen Bestands in einer Raumecke, aber keinen definierten Anfangspunkt, der linear zu verfolgen wäre. Zwar gibt es Ränder, aber die Begrenzungen sind gebrochen und unbestimmt, lassen das ganze Bildwerk wie ein riesiges, fortführbares Fragment aus Fragmenten erscheinen. Es fordert uns zur immer neuen Annäherung, zum Blick- und Richtungswechsel heraus. Wir suchen die Nähe, konzentrieren uns auf Details, um sie zu entziffern, stoßen auf neue Bedeutungsfacetten. Wir suchen den Vergleich, um unsere Lektüren zusammenzustellen, um Kombinationsmöglichkeiten zu erproben. Und wir suchen die Distanz, um - immer nur vorläufige - Übersichten zu gewinnen. Damit aber hat uns das Ensemble verführt: Wir haben uns unversehens auf einen Betrachtungs- und Verstehensweg begeben, der dem Werk zugrunde liegt und in ihm verzeichnet ist. Wir führen Anna Oppermanns Bewegungen durch Raum und Zeit, ihre Wechsel zwischen Nähe und Distanz, zwischen Fokussierung und Kombination, zwischen Wiederholung und Verschiebung, zwischen Einsicht und Übersicht beim Gang durch das Werk fort.

Mehr als sechzig Ensembles hat die Künstlerin von den ausgehenden 60er Jahren bis zu ihrem frühen Tod in langjährigen Arbeitsprozessen entwickelt, mehr als dreißig der Arbeiten bestehen heute aus mehreren hundert Einzelteilen. Jedes Teilstück hält eine Facette oder eine Station der Wahrnehmungs-, Forschungs- und Deutungswege fest, auf die sich die Künstlerin zu Fragestellungen wie »Frau sein«, »Künstler sein«, »Anders sein«, wie »Liebe, Erotik, Sex«, dem »ökonomischen Aspekt« oder die »Paradoxen Intentionen« (des Kunstmachens) begab. Auf diesen Wegen scheint (fast) alles erlaubt gewesen zu sein. Überraschten schon Menge, Größenunterschiede und Perspektivwechsel, so noch mehr der genaue Blick ins Inventar: Ein Ensemble versammelt nicht nur annähernd alle künstlerischen Medien und Gattungen - vom Fundstück über Zeichnung, Malerei, Fotografie, Schrift bis Plastik und Architektur -, sondern zeigt sie auch in stilistischer Vielfalt. Naturalistische Zeichnungen finden sich neben flüchtigen thematischen Skizzen, schematischen Studien und Diagrammen. Porträtfotos und Fotofundstücke aus dem Alltag tragen neue Motive in das Ensemble, während viele schwarz-weiße oder farbige Fotografien vorrangig die Werkentwicklung zu dokumentieren scheinen und Polaroids flüchtige Eindrücke von Arbeits- und Aufbauphasen wiedergeben. Auffällig unterscheiden sich auch Textsorten und -arten: Schreibschriften, Druckschriften und gedruckte Schriften in wechselnden Größen halten Literaturzitate und Abschriften philosophischer, psychologischer, sozialwissenschaftlicher oder naturwissenschaftlicher Texte fest. Eingestreut in das Arrangement werden ferner ausgerissene Zeitungsmeldungen und handgeschriebene Notizen auf Zeichnungen und Bildleinwänden lesbar.

»Ich wollte mich nicht entscheiden«, vermerkt Anna Oppermann 1986, »was im Hinblick auf die Aussage wichtiger oder als besser gelungen zu bezeichnen sei: das reale Objekt, die Skizze, die gedankliche Auseinandersetzung, oder das fertiggestellte Bild. Jedes Teil hatte etwas, was dem anderen Teil fehlte.« Stilpluralismus ist nicht nur sichtbares, sondern erklärtes Kennzeichen der Ensembletätigkeit. Doch die erstaunliche Vielfältigkeit ist nicht einfach »beliebig«, sondern aussageorientiert: »Jedes Teil hatte etwas, das dem anderen fehlte«. Grundsätzlich erkennt die Künstlerin also ein Ungenügen, die Ambivalenz und Kontextgebundenheit jeder Aussage, die Unsicherheit jeder Erkenntnis, jeder Klassifizierung und Ordnung an. Sie spürte der Wandelbarkeit der Ansichten, Deutungen und Beziehungen der Dinge, Wörter und Bilder nach, zeigt wie Blickänderungen die Aussageinhalte verschieben, enthüllt über unterschiedliche Darstellungsweisen eklatante (Be-)Deutungsunterschiede.

Doch es genügt nicht, das künstlerische Ziel der Ensemblekunst hiermit erklären zu wollen. Denn es geht Anna Oppermann weniger um die Darstellung der unerschöpflichen Aussagemöglichkeiten und ihrer prinzipiellen Gleichgültigkeit als vielmehr um die Visualisierung der Möglichkeit und Notwendigkeit, Aussagen zu machen und Entscheidungen zu treffen angesichts der Fülle der Möglichkeiten, eingedenk der Komplexität und Vorläufigkeit. Wesentlich nämlich ist, daß - und wie - sie ihre vorläufigen Ansichten und Schreibweisen überliefert. Jedes Ensemble ist gleichermaßen ein Ort der Tradierung und potentieller zukünftiger Fortschrift. Weit davon entfernt, bloße Abbilder unserer informationsüberfluteten Wirklichkeiten oder Archive der materiellen wie ideellen Pluralität der Welt zu sein, führen uns ihre Ensembles in ausgewählte Zwischenräume des Wirklichen, in - fortsetzbare - Wahrnehmungs-, Besprechungs- und Bewertungsräume der Welt.

Im Zentrum ihrer Auseinandersetzung steht die »Realität des Alltags«, stets ist es »ein Stück Realität«, dem sie sich beobachtend, denkend und urteilend nähert - wie sie in vielen Texten zur »Methode« vermerkt. Ihre wiederholten Hinweise auf die »methodischen« Spielregeln der Ensembleprozesse versuchen vor allem den häufig geäußerten Vorwurf der Beliebigkeit und des Subjektivismus zu entkräften. Sie zeichnet hier ihre Prozeßbewegungen nach, die vom »relativ Einfachen« zum »relativ Komplizierten« verlaufen und hebt hervor, daß Fülle und Vielfalt der Äußerungsformen nicht einfach zugelassen, sondern strukturiert und reflektiert werden, daß fortlaufende Besichtigung und Beschreibung mit Fokussierung, Kombination und Selektion verbunden wird. Folgen wir kursorisch dem beschriebenen Weg, entdeckt sich noch besser ihr eigentliches Anliegen: Die Visualisierung eines verändernden Wahrnehmens und Denkens um die Bruch- und Nahtstellen des Sicht- und Denkbaren.

In der Tat hat jedes der über Jahre gewachsenen Ensembles einen erstaunlich einfachen - zeitlichen und räumlichen - Beginn. Alle bildlichen und sprachlichen Entdeckungsreisen Anna Oppermanns sind durch je eigene »Ausgangsobjekte« motiviert: Wenige ausgewählte, unspektakuläre Gebrauchs- oder Dekorationsgegenstände, Blumen- oder Pflanzenblätter, manchmal ergänzt um einen fotografischen Schnappschuß, hin und wieder um eine gängige Floskel oder eine überlieferte Redewendung. So nimmt das Ensemble »Paradoxe Intentionen« seinen Ausgang von Sprichwörtern und Phrasen zur Farbe Blau, einem funktionslosen, aber kitschig-schönen blauen Glasschrein, den unscheinbaren Pflanzen Tagetes und Indigo und einem unvorteilhaften Foto der Künstlerin (vergl. Text u. Abb. S.16/17).

Die Künstlerin arrangiert diese Funde zu kleinen Stilleben auf einem Tischchen oder einem Podest, exponiert sie vor sich zur eingehenden Betrachtung. Ihre erste Annäherung bezeichnet sie selbst als »Meditationsphase«. Vorwiegend in naturalistischen Detail- und Ausschnittszeichnungen hält sie intensive Studien der Formen und Farben der Objekte, des ersten Arrangements fest. Gleich zu Beginn des Ensembleprozesses offenbaren die Ausgangsobjekte so ihre Unermeßlichkeit. Ungeahnte, rätselhafte Bedeutungen, seltsame Untiefen und Fremdheiten treten hervor - wie an allem noch so Gewohnten und Gewöhnlichem, dem wir versuchen, unendlich nahezukommen: Das vertraute Wort zerfällt bei vielfacher Wiederholung in willkürliche Buchstaben, die wir nur noch stammelnd zusammenbringen. Am schon oft achtlos benutzten Gegenstand irritiert plötzlich die Formung, verunsichert die rohe Materialität. Im Bild, das der Blick so häufig schon unbeteiligt streifte, verlieren die abgebildeten Dinge Zusammenhang und Halt, erfaßt uns das hinter ihnen Verborgene, das Unsichtbare und Ungewisse.

Die nahsichtige »Meditation« vor den Ausgangsobjekten stimmt in den nächsten Prozeßschritt ein, in dem jede Äußerung zugelassen sein soll - »so weit wie möglich ohne Berücksichtigung von herkömmlichen Kunst- und Verhaltensnormen«, führt die Künstlerin aus. »Katharsis« nennt sie diesen Produktionsschritt, dessen Ergebnisse nur spärlich in den Installationen zu finden sind, oft von der Künstlerin verborgen oder entfernt werden. Hier ist nicht »Läuterung« angestrebt, sondern eine produktive »Reinigung« von Vorurteilen, von übernommenen Klischees, Stereotypen und Banalitäten. Gerade in der spontanen Reaktion auf etwas drängen Vorgedachtes und Vorgewußtes heran, das, was man unbewußt oder bewußt an Ansichten, Blickverstellungen und Denkrastern mit sich trägt.

Beide Prozeßschritte, die die Künstlerin unter dem Begriff »Primärprozeß« zusammenfaßt, dienen der Konzentration und der Öffnung. Anna Oppermann begegnet ihren Fundstücken - offen und erwartungslos, aber um die eigenen Voreingenommenheiten wissend. Ausgerechnet Exponierung und Nahsicht entdecken die vorgängigen Signaturen der Dinge, Bilder und Begriffe, privat-persönliche und allgemeine Bezeichnungen und Wertungen. Ebenso eindringlich aber tritt auch ihre sprachliche und bildliche Uneinholbarkeit hervor. Jede Benennung, jede Aussage balanciert am Abgrund, jede Enträtselung wird Teil eines neuen Rätsels.

Der Nahsicht folgt die Abstandnahme, ein »Sekundärprozeß«, schreibt Anna Oppermann. Zunächst unterzieht sie die gesammelten Ansichten der »Reflexion«, dem »feed-back aus der Distanz«. Die Künstlerin macht Fotos und Zeichnungen, die ihre Funde und Betrachtungen zusammenfassen, Übersichten geben. Sie notiert Assoziationen, sucht und sammelt Bezügliches in den Archiven des kulturellen Wissens. In der anschließenden »Analyse und Herstellung eines Gesamtbezugs« bemüht sie sich um Anordnungen, erprobt passende und konfrontierende Zusammenstellungen. Das Ziel dieses Arbeitsschritts notiert sie auf einem 1984 entworfenen »Methodendiagramm«: »bestimmen, fixieren neuer Normen«.

Spannend ist diese Notiz gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen hebt sie als Anliegen hervor, daß etwas »neu« gesagt werden soll. Zum anderen spricht sie Entscheidungsfindungen an, verweist auf die Notwendigkeit, Bestände zu sichten, zu selektieren und zu kombinieren, um treffende Aussagen festzuhalten. Beides hat Anna Oppermann in ihren Ensembles eng verbunden. Die »neuen Normen« - die auf den Bildleinwänden festgehaltenen Konstellationen - sind ausgewählt und gefügt aus den im Prozeß gesammelten Sensationen des Unscheinbaren, den Reproduktionen unbedachter Vorurteile, den Entdekkungen von Verdrängtem, Verschüttetem, ihren distanzierten Bewertungen, den Fremdäußerungen und Zitaten, die sie beim Blick in Bibliotheken, Kunstgeschichte und Alltagskultur findet. Schließlich bleiben aber auch sie Zwischenentscheidungen, vorläufige Ergebnisse, die dem erneuten Studium ausgesetzt werden. Der Arbeitsprozeß beginnt von vorn.

Was Anna Oppermann so (er-)findet ist unbekannt, doch nie radikal neu. Ihre »Methode« wirkt wie ein Zauberstab, der Gewöhnliches, Bekanntes und Tradiertes auftaut. Die Künstlerin destabilisiert das Sichtbare, seine Konventionen, Normen und Denktraditionen, zerlegt sie in ebenso befremdliche wie vertraute Bedeutungsschichten, um sie zu verwenden, zu verdrehen, in neue Kontexte zu verschieben, um mit ihnen ein veränderndes Denken um das ausgewählte »Stück Realität« sichtbar - und besprechbar - zu machen.

Einmal angestoßen, zogen sich einzelne Ensembleprozesse über Jahre, bisweilen Jahrzehnte hin. Das Ensemble »Paradoxe Intentionen« hat Anna Oppermann erst 1988 begonnen und sein Bestand wuchs vom oben beschriebenen Ausgangsstilleben bis 1992 - kurz vor ihrem Tod - in mehreren Etappen. Erstmals öffentlich gezeigt wurde die Arbeit, noch klein in einer einzigen Raumecke, im Heidelberger Kunstverein 1990 (Abb. S.15). Nach der Ausstellung arbeitete die Künstlerin in ihrem Celler Atelier weiter (Abb. S. 20f.). Bereits bei seiner zweiten öffentlichen Präsentation in der Städtischen Galerie im Sophienhof, Kiel 1991, war das Inventar des Ensembles um unzählige Zeichnungen, Aquarelle, Objekte und Bildleinwände angewachsen. Nun installierte sie es als riesigen »Raum im Raum«, den man betreten und umschreiten konnte (Abb. S. 27f.). Anfang 1992 bereitete Anna Oppermann die Verschiffung des Ensembles für seine nächste öffentliche Station im Museum of Contemporary Art in Sydney vor. Modelle und Entwurfsskizzen zeigen erste Installationsplanungen. Doch die Ausstellung mußte verschoben und konnte schließlich erst im Jahr nach ihrem Tod realisiert werden (Abb. S. 32f.). Es war der vierte posthume Aufbau eines Ensembles, der zu einer besonders schwierigen »Übersetzungsaufgabe« für das Aufbauteam wurde. Während der Raum in Kiel, dem letzten Präsentationsort des Ensembles, weitläufig und hoch war, bot sich in Sydney ein relativ kleiner und niedriger Aufbauort, der eine Rekonstruktion von vornherein ausschloß und umfassende Interpretationsleistungen einforderte, um die zentralen Vorgaben und Ansprüche des Ensembles sichtbar zu halten. Demgegenüber konnte seine Neuinstallation im Celler Schloß wieder stärker an Anna Oppermanns letzter Fassung in Kiel orientiert werden, wenngleich auch hier räumliche Unterschiede einige Umstellungen bedingten (Abb. S. 6).

Es ist ein überaus lebendiges Archiv, eingelagert in Kästen und Depots, das Anna Oppermann hinterlassen hat. Denn will man die Ensemblekunst heute zeigen, muß man sie gerade in ihrer Prozessualität und Vorläufigkeit, in ihrer Fortschreibbarkeit »wahren«. Die Arbeiten besaßen und besitzen auch nach dem Tod der Künstlerin keine abschließende, letztgültige Form und versperren sich hartnäckig jedem Versuch einer detailgenauen Rekonstruktion. Bei jedem Neuaufbau sind die Prinzipien und Ansprüche der Arbeitsweise deshalb auf die Interpreten übertragen. Sie verlangen - soweit nötig - auch neue Lösungen, den räumlichen und situativen Bedingungen adäquate Verschiebungen des überlieferten Ensemblebestands. »Ich hasse endgültige, sich absolut gebärdende Formulierungen«, insistiert die Künstlerin. Und getreu diesem Diktum hat sie alle ihre räumlichen und bildlichen Arrangements in einem vorläufigen Zustand belassen. Ihre Kunst besteht gerade darin, etwas vielfach und ambivalent an- oder auszusprechen, ohne es auszusagen, es zu Ende zu sagen. Sie schafft Beweggründe, Motivationsfelder, die für Ergänzungen und Veränderungen offen sind. Die gesammelten Formulierungen drängen gleichermaßen auf Lektüre und Fortsetzung.

Und es trifft sich - zufällig? -, daß gerade »Paradoxe Intentionen«, eines der letztbegonnenen Ensembles Anna Oppermanns, eindringlich ihre Aversion gegen vorlaut erklärte Erkenntnis und Vollendung belegt. Es steht in Verbindung mit vielen ihrer Werke, greift Aspekte aus Themenfeldern, die sie schon Jahre zuvor begonnen hatte aufzublättern. Spiegel und Spiegelungen, die Brechung und Verfremdung der Realität waren ihr ein »Schlüsselerlebnis«, das sie in ihrem ersten Ensemble - dem »Spiegelensemble« (seit 1965) - umkreist. Die Fragen nach Lüge und Wahrheit reichen direkt aus dem Ensemble »Pudding oder Seife - Über Ehrlichkeit oder die verschiedenen Aspekte des Schafs« herüber, aber auch aus einer ganzen Folge von Ensembles um die Kunst, das Künstlersein, die praktischen und ökonomischen Aspekte des Kunstmachens. Sie werden - mit einer entscheidenden Akzentverschiebung - fortgeführt: Kaleidoskopisch aufgesplittert dreht sich alles im Ensemble um »Schein«, besonders den schönen, um die magische Fähigkeit, Häßliches in Schönes, Farbloses in Farbiges zu verwandeln, um Verspiegelungen und allerlei Vorspiegelungen, um Lüge und Ehrlichkeit in Kunst und Leben. Lustvoll und ironisch hat Anna Oppermann Hinweise auf die romantischen Aspekte ihrer Arbeitsweise aufgegriffen, hat ihre eigene Ästhetik aufs Korn genommen: Die paradoxe Intention einer immer unsagbaren Wahrheit, der Komplexität des Lebens und der Kunst, mit einer generativen, unabschließbaren Kunstform zu begegnen, ohne sie schrittweise erfassen oder ihr beikommen zu wollen. Für diese »Wahrheit« mußte auch sie lügen, war sogar bereit, schönzufärben, zu verrätseln und zu verzaubern - zumindest bis zu einem gewissen Grad, denn aller »Schmalz verlangt nach einem trockenen Brötchen« (vergl. Text S.16). Und mit »trockenen Brötchen«, mit Unpassendem, Fragwürdigem, Abgründigem und Anstößigem hat sie uns gut versorgt.



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