I Bericht aus dem Archiv
II Archiv, Museum, Fahndung oder Gedächtnis?
»Aber wenn jemand in einem Notizbuch voller Aphorismen einen Bezug,
einen Hinweis auf ein Rendez-vous oder eine Adresse oder eine
Wäschereirechnung findet: Werk oder nicht Werk? Aber warum nicht?
Und so weiter ad infinitum. Wie kann man aus den Millionen Spuren,
die jemand nach seinem Tod hinterläßt, ein Werk bestimmen? Die
Werktheorie existiert nicht und denen, die naiv beginnen, ein
Werk herauszugeben, fehlt eine solche Theorie, so daß ihre empirische
Arbeit deshalb sehr rasch ins Stocken gerät.«(1)
Was Michel Foucault im Hinblick auf den literarischen Nachlaß
vorgedacht hat, erweist sich als um so treffender, schlägt uns(2) mit noch größerer Naivität, verhindert nahezu jede allgemein
begründbare Entscheidung angesichts eines Werkes, das einen Großteil,
aber keinesfalls alle dieser Anwesenheitsspuren in sich aufgenommen,
ver- und eingearbeitet hat. Man wird Meister der Differenzierung,
der Suche nach neuen Kategorien, im Hinzufügen offener Kategorien,
die das Unverortbare, das Rätselhafte, das Vereinzelte auffangen
können, neben den auch zu Lebzeiten Anna Oppermanns immer nur
vorläufig und in wandelbaren Formen verbürgten Ensemblewerken.
Der Nachlaß befindet sich an drei Orten: drei räumlich, aber nicht
inhaltlich getrennte, ungeordnete Archive des Lebenswerkes in
Hamburg und Celle. Hier ist beinahe alles aufgehoben, und es scheint,
daß dieses »beinahe alles« Anna Oppermann (wieder-)verwendbar,
anwendbar, in neuen Ordnungen, Anordnungen neuen Bedeutungsfunktionen
zuführbar, deshalb bewahrenswert erschien. Wir stehen vor unzähligen
Materialhaufen und -häufchen, Ansammlungen in Wohnungsecken und
Vitrinen, verstaubten Zusammenstellungen an Wänden, auf Tischen
und Tischchen, in eigens angefertigten Nischen, in Pappkartons
und Plastiktüten zusammengeworfenen Ensemblerudimenten. Derart
um uns ausgebreitet ist ein unübersehbares künstlerisches Produktarchiv
und sein Fundus, zusammengesetzt aus Fundstücken, Alltagsrelikten
und gesammelten Notizen, riesigen Mengen von Fotodokumenten, gleichsam
potentiellen Arbeitsgrundlagen für die Ensembleleinwände und Zeichnungen,
einem fast unbekannten Frühwerk ohne genaue zeitliche Grenze,
schrift-zeichnerischen Assoziationen und Analysen zur Methode,
Bergen alter Zeitungen und Zeitungsausrisse als mögliche Quellen,
unverortbaren fotografischen Nebenproduktionen, einer überall
verstreuten Fotosammlung von Menschen vor und in Ensembles, sowie
mehreren Notiz-, Skizzen- und Tagebüchern. Komische Verzweiflung
macht sich breit, sobald wieder eine/r von uns ein neues, rätselhaftes
Konvolut aus den schier unerschöpflichen Nachlaßmassen birgt.
Auch eine Blickeingrenzung auf die Ensembles und ihre Bestandteile
erleichtert die Sicherungs- und Zuordnungsversuche nicht. Denn
neben den in Museen (re-)präsentierten Ensembles(3) war nach dem Tod Anna Oppermanns einzig in Celle, dem zweiten
Wohn- und Arbeitsort, eine weitere Arbeit räumlich arrangiert.
Und selbst diese Festinstallationen erfassen beileibe nicht alle
um ihre jeweiligen Themenfelder gesammelten und angefertigten
Materialien. Ihre Reststücke liegen zusammen mit 61 weiteren Ensembles
verteilt und vielfach nur grob und vorläufig voneinander und dem
Fundus getrennt in den drei Werkarchiven. Die angegebene Zahl
und die thematische Benennung, die jeweilige Betitelung konnte
ermittelt und aufgeführt werden unter Berufung auf den retrospektiven
Katalog von 1984, für den die Künstlerin ihre unabgeschlossenen
und unabschließbaren Werke anfangschronologisch und thematisch
unterschieden, reich bebildert aufbereitete, und auf ihre in Zusammenarbeit
mit mir erstellten Auflistungen der Werkkomplexe nach 1984, sowie
alle verfügbaren fotografischen Dokumentationen von öffentlichen
Präsentationen und Arbeitszuständen.
(4) Nur die Foto- und Bildleinwände, die vergrößerten Abbilder
der temporären Arrangements, lassen sich fast vollständig zuordnen,
gemäß den Dokumentationsvorlagen der verschiedenen Ausstellungs-
und Aufbauzustände der einzelnen Ensembles. Ansonsten werden die
Berührungspunkte, die inhaltlichen und formalen Überschneidungsfelder
zwischen den Werkeinheiten - immer wieder Probleme mit dem kunsthistorischen
Vokabular - durch »abgewanderte« Zeichnungen, Texte, übergreifende
bildliche oder schriftliche Assoziationen markiert. Gleichermaßen
stoßen wir häufig auf in den Fotodokumenten nicht auffindbare
Partikeln, kuriose Alltagsobjektchen, skurrile Fotografien, Telefonzeichnungen,
selbst Notiz- und Einkaufszettel, Relikte des alltäglichen Lebens,
geglättet verpackt in den Plastiktüten oder Pappschachteln, die
Anna Oppermann mit der Aufschrift eines Ensembletitels versehen
hat. Die Frage bleibt offen, ob es sich um Irrläufer oder dem
Themenkomplex neu eingeordnete Fragmente anderer verwinkelter
Gedankengänge handelt, ob ein Element nur zufällig oder abfällig
in der Kiste gelandet ist, wie diverse abgebrannte Zündhölzer,
Zellophanverpackungen von Zigarettenschachteln, vergilbte Rechnungen,
hin und wieder eine Ausstellungseinladung oder ein Kuchenrest
suggerieren.
Wie gehen wir vor? Ich nenne es Annäherungsarchivierung, eine
beständig fortschreibbare, erweiterund modifizierbare Erfassung
der Bestände, die tastend von Ensemble zu Ensemble immer enger
einkreisend die Felder eruiert und verzeichnet. Zwar ist die Sicherung,
der Erhalt der künstlerischen Produktion unser zentrales Ziel,
aber es kann uns nicht angelegen sein, die verwobenen, verzweigten
und sich überschneidenden Bestände abschließend zu zergliedern,
festzuschreiben und in »Werkeinheiten« zu bannen. Basis unserer
Arbeit ist ein eigens entworfenes, mehrschichtiges Erfassungsprogramm,
das die Verknüpfungen der Werkkomplexe quer durch das Gesamtoeuvre
aufzuzeigen vermag.(5) Alle Verzeichniseinträge werden mit Anmerkungen versehen und
so richtungsoffen gehalten wie wir sie vorfinden, das Fragliche
fraglich belassen bis zu einer späteren oder keiner Klärung. Gewiß,
es gibt Maßgaben, wir stehen vor den Manifestationen, doch die
Einlagerungen im Archiv sind nicht das Werk, besitzen die Teilstücke
doch erst in den räumlichen Arrangements ihre tatsächliche künstlerische
Gestalt. Die Katalogisierung ist immer auch, ein Schritt in Richtung
erneuter Veröffentlichung, die Vorarbeit, das Nach-Denken der
einzelnen Ensemblespuren und -strukturen. Beide verlangen nicht
einfach eifrige Bewahrer, d.h. traditionelle konservatorische
Anstrengungen, die das Werk abrufbar bereitstellen, konservieren
und museifizieren, sondern umsichtige Interpreten, die sich mit
dem offenen Material, den Lücken und Brüchen auseinandersetzen
und Rekonstruktion als Neuinterpretation, als Ubersetzung in einen
neuen Raum, eine veränderte Situation, zum Teil sicher auch in
die Sprache, in den Wortschatz des Interpreten verstehen. Das
Nach-Denken führt so immer zum Neudenken der verzweigten Mementi,
die Anna Oppermann hinterlassen hat, und erweist das abgeschlossene,
nicht weiter wachsende Werk als lebendiges Erfahrungsarchiv, dessen
Werkpartikeln bereitliegen, um vergegenwärtigt zu werden. Wie
zu Lebzeiten Anna Oppermanns muß auch heute noch jede Entscheidung
immer wieder neu - und nie objektiv eindeutig begründbar - gefällt
werden.
II Archiv, Museum, Fahndung oder Gedächtnis?
»Es beginnt schon bei der Anlieferung. Gleich, was da kommt, alles wird bis auf die letzte Messingschraube genau registriert. Jedes Stück bekommt eine Karteikarte. Unpräzise Bezeichnungen wie 'mehrere', 'diverse' oder 'einige' tauchen im Wortschatz des Karteischreibers erst gar nicht auf. Jedes Teil bekommt seinen festen Platz. Ob es nun eine abgebrochene Zaunlatte, eine komplette Stereoanlage, die Fingernägel eines Mordopfers, ...«
Dieses Textfragment, ein Zeitungsausriß inmitten der kleinteiligen
Bilder-Schrift-Flut des Ensembles Pathosgeste - MGSMO im Altonaer Rathaus in Hamburg, führt uns
ein in eine polizeiliche Asservatenkammer, einen Speicher für
Beweisstücke, für gesicherte Spuren, penibel verzeichnet und sauber
verstaut in Regalen, kommentarlos, bezugslos (außer durch Zufälle),
doch beständig anwachsend. Das Polizeiasservat ungelöster und
gelöster Fälle weist wesentliche Archiv-Merkmale auf: Archive (ver)bergen ihre Bestände, sind systematische oder zeitlich lineare
Sammlungen von Dokumenten, Akten oder Beweismitteln, die unter
Abrufung festgelegter Codes kontrollierte Zugriffe erlauben. Hauptkriterien
sind demgemäß Sicherung und Abrufbarkeit. Angesichts der bildlichen
und textlichen Fülle, der verzahnten und heterogenen Struktur
sowie des fragil-provisorischen Charakters eines räumlich arrangierten
Ensembles erscheint die begriffliche Umschreibung Archiv weit
entfernt. Die Installationen entbergen im Gegenteil ihre Informationen
geradezu, schütten sie dem Betrachter entgegen, nicht als Serie,
als Sammlung in geordneter Folge, nicht systematisch oder schematisch
gegliedert, sondern als komplex gewebtes Arrangement von Ansichten,
Abbildern, Fundstücken und Schriften.
Dennoch ist die Metapher Archiv für die Ensembles häufig verwendet worden, allerdings immer in Verbindung mit ihr diametralen Begriffen wie Denkarchiv, Prozeßarchiv oder Gedächtnisarchiv. Ist nicht das Denken immateriell, sind nicht Prozesse flüchtig, das Gedächtnis aktiv oder aktiviert, das Archiv dagegen immer Hort gesammelten, passiven Materials? Welche Aspekte begünstigen also die Archiv-Metapher für die Ensembles? Zunächst die zu Lebzeiten der Künstlerin stetig wachsende Fülle des ausgestellten Materials, das beziehungsreich motivisch, thematisch wie formal zusammengekettet ist, d.h die Sammlung; die An-Sammlung von Materialien. Ferner die Materialität der Kunstwerk bestandteile selbst: Die Fundstücke, ob aus der Natur oder aus dem humanen Produktionsbereich, sind Reststücke, Fragmente aus vorherigen Zusammenhängen, weisen so Parallelen zu den Beweisstücken der Asservatenkammer auf. Daneben überwiegt Papier, Fotopapier und (Foto)-Leinwand, assoziativ verknüpft mit Akten und Briefdokumenten, die Verläufe und Ergebnisse von Verfahren mitschreiben und bewahren. Besonders die Menge an Fotografien, ob auf Papier oder Leinwand, die die Fundstücke in unterschiedlichen Situationen, in immer neuen, um weitere Ansichten vermehrten Kontexten zeigen, halten augenscheinlich als Dokumente Zustände und Situationen des künstlerischen Prozesses fest. Auf Tafeln und Zetteln niedergeschriebene Zitate erinnern an die Registration von Zeugenaussagen, die schriftlichen Annotata auf Zeichnungen, Zeitungsausrissen, auf Leinwänden und Bildern wirken wie Prozeßnotizen, Kommentare zum Vorgefundenen, Hinweise und Vermerke am Rand.
Betrachtet man die Ensemblebestandteile als gesammelte Dokumente
von Ereignissen - Abfallprodukte oder Protokolle von Tathergängen
-, könnte die Begriffsmetapher Archivalien, besser noch der Begriff
Asservate eingeschränkt für sie adaptiert werden. Eingeschränkt
deshalb, weil das »Archiv« Ensemble in keinem seiner Teilstücke
zur Ruhe kommt, kein Teil je für sich selbst steht und damit repräsentativ
für einen Vorgang, sondern immer (bedeutsamer) Teil aller Vorgänge
bleibt, in die er eingeflochten wurde. Ferner - und dies wird
in jedem Ensemble der genauen Betrachtung sichtbar kann jedes
Einzelteil zum Ausgangspunkt neuer anschaulicher Überlegungen,
zum Auslöser weiterer Assoziationen und Analysen werden. Eingeschränkt
aber vor allem deshalb, weil die archivarische Tätigkeit der Künstlerin
stets an Produktion gebunden ist. Die Beweisaufnahme ist eben
nicht mit dem Verzeichnen der Fundstücke abgeschlossen, sondern
fängt mit ihnen erst an. Sie sind die Auslöser der wachsenden,
potentiell unabschließbaren Erfahrungsanthologien, in denen das
Immaterielle der um sie passierenden Denk- und Wahrnehmungsprozesse
bild-schriftlich materialisiert und angehäuft wird, nicht zwecks
speichernder Ablagerung, sondern zwecks erinnernder Ver-Wendung
innerhalb des wandelbaren Gesamtbildes eines Ensembles. So hat
keines der Archivate(6) einen festen Ort im Gefüge, sondern bekommt mit jedem Neuarrangement
einen anderen Platz innerhalb des Kontextes zugewiesen, wird zum
Fragment eines vielteiligen, zusammengesetzten Gesamtbildes. Das
veröffentlichte, zur Besichtigung herausgestellte, bedeutungsvoll
arrangierte Ensemble ist nicht auf Sicherung und Abrufbarkeit
von Informationen, sondern auf deren veränderliche Bedeutungen,
auf Wechselbezüglichkeit und Kontrastierung, Kontextuierung und
Verweis ausgerichtet.
In den letzten Satz hat sich ein unvermeidbarer Widerspruch eingeschlichen,
der die Beschreibungsmetaphorik vom Archiv auf das Museum verweist, dessen (aktuelle wie historische) Form, Bedeutung und
Funktion auf sonderbare Weise mit der der Ensembles konvergiert.
Nicht nur der Umstand, daß die öffentliche Zurschaustellung, die
Ausstellung als Stillstellung der Ensembles immer in Museen oder
Galerien, in den vermeintlich neutralen Orten, den für Kunst gesellschaftlich
verbürgten Räumen stattfindet, auch die Stillstellung selbst steht
im Widerstreit mit der prozessualen Offenheit der Sammlung, den
veränderlichen Anordnungen der Archivate zu unterschiedlichen
Zeitpunkten. Sowohl der konservatorische Zug, die Sammlung und
Bewahrung von Informationen, Informationskonstellationen, als
auch das Prinzip der Ausstellung in einer Anordnung, einer gestalteten
Ordnung, entspricht den musealen Grundstrategien. Daß aber, trotz
der offenkundigen Parallelen zum Museum, bislang niemand die Oppermannschen
Arbeiten mit »Gedankenmuseen« umschrieben ha - wohl versuchten
einige Interpreten, das Präsentieren und Präsentiertsein der Materialkomplexe
als Geste der Darbringung zu fassen, und verglichen sie mit Altären
-, liegt in ihrem konterkarierenden, unübersehbaren Angriff auf
die Institution begründet. Wird doch das Kunstmuseum des 20. Jahrhunderts
tatsächlich derangiert durch die rahmenlos in den Raum wuchernde
Bilderflut, die flächendeckende Okkupation der weißen Wandflächen,
an oder vor denen die geweihten Werke sonst in geziemlichen Abständen
ihr monadisches Eigenleben führen.(7) Anders auch als dem Museum eingeschobene, eingeschachtelte
Räume - viele Rauminstallationen, Environments - verschachtelt
Anna Oppermann den Raum selbst mit ihren Objektbesichtigungen,
den polyperspektivischen, fragmentarischen, aber räumlichen Illusionen.
Das Ensemble läßt nicht die Illusion eines neuen, anderen Raumes
entstehen, sondern die Illusion der Durchbrechung des gegebenen
Raumes, einer Störung des klar gegliederten Ordnungssystems Museum.
Innerhalb der präsentierten Sammlung Ensemble manifestieren sich zudem fundamental andere Strategien des Umgangs mit Zeit, Bewahren und Vergehen, mit der Besichtigung und Zurschaustellung von Objekten. Obwohl sie aus ihren vorherigen funktionalen Zusammenhängen herausgerissen sind, fallen die Ensemblefundstücke wie ihre Abbilder, die produzierten Archivate, nicht der Entzeitlichung anheim, der alle musealen Ausstellungstücke normalerweise ausgeliefert sind, die von immer unsichtbarer Hand und mit immer unsichtbaren Pflastern gehegt und versorgt in einem unveränderlichen Dauerzustand gehalten werden. Die Ensemblepartikeln tragen zum einen Spuren von Abnutzung und natürlichem Verfall, als Folge ihrer Bewegungen in Raum und Zeit, zum anderen sind sie Auszüge, Momentansichten eben dieser Bewegung, deren stillgestelltes, simultanes Arrangement gerade die Prozessualität und Zeitlichkeit einer Ensembleentstehung erfahrbar werden läßt. Zwischen Objekten, gezeichneten Objekten, fotografierten Objektzeichnungen, Beschreibungen und Analysen von Zusammenstellungen, bildlichen und textlichen Anmerkungen, erneuten Fotografien und Zeichnungen usf., die kleinteilig in den Ensembles angeordnet oder auf den Bildleinwänden ineinander verschränkt abgebildet sind, scheint die Bewegungszeit, scheinen die Positionswechsel der Künstlerin auf, werden Abfolgen und Brüche im Arbeitsprozeß gegenwärtig. Anna Oppermanns Wechselspiel von Sammlung, Bewahrung, Anordnung und stetiger Erweiterung, Modifikation und Umordnung erzeugt ein synchrones und ungeordnetes, statt chronographisches oder chronologisches, ein instabil geschichtetes, statt geschichtliches, ein sichtbar lückenhaftes, statt kontinuierliches, ein dynamisches und variables, statt fixiertes Zeitengefüge.
Sicherlich entgehen auch Ensembles nicht dem Museumssog, selbst die offenste, prozeßorientierteste Produktion und Sammlung von Erfahrungen wird mit dem Eintritt in den musealen Raum zum repräsentativen Kulturgut, zum beglaubigten künstlerischen Betrachtungsobjekt, damit seinen Bedeutungen und Konventionen unterworfen.
»Meist ist die Tätigkeit des Musealisierens ein Deklarationsakt,
der das Sein eines Objektes von einem Moment zum anderen wesentlich
verändert. Die 'Metamorphose', die das Objekt durch den Musealisierungsakt
erfahren hat, manifestiert sich im veränderten Verhalten des Subjektes
dem Objekt gegenüber. Man nähert sich dem musealisierten Gegenstand
mit dem ihm gebührenden Respekt in der 'Gebärde der Besichtigung'.«(8)
Umreißt Eva Sturm die transformierte Situation zwischen Museumsobjekt und Betrachtersubjekt. Innerhalb ihrer selbst aber laufen die Ensembles, die Abbilder vielfältiger, widersprüchlicher Sehbewegungen dem musealen Betrachtungsritus zuwider. Sie zeigen Sehhaltungen, die sonst aus dem Museumsraum verbannt sind, Aktionen und Aktivitäten wie jene, von denen Eva Sturm vermerkt:
»... Bewegungen, emotionale Äußerungen, Unverständnis, Unkontrolliertes,
Chaotisches etc. müssen in diesem Rahmen zurückgedrängt werden,
man hat zu lernen, sich zu beherrschen. Der inoffizielle Blick
wird abgelöst durch den offiziellen.«(9)
Die Betrachter eines Ensembles werden gleich mit einem Mosaik solcher »inoffiziellen Blicke« konfrontiert, die sie nicht selten zu ungewöhnlichem Sehverhalten provozieren. Sie bücken, krümmen, setzen, legen oder verrenken sich den Hals, um aus vielen Perspektiven möglichst alle Teile der verwobenen Bilder zu erforschen.
Gerade weil im öffentlichen Aufbau wie im Entstehungsprozeß, der
Fahndung zum Ensemblethema die Besichtigung, das Herausstellen einer Sache
zur Betrachtung zentral ist, unterwandert Anna Oppermann die auf
der Entzeitlichung basierende Repräsentationsfunktion der musealisierten
Objekte für einen vergangenen Zeitraum, einen festgeschriebenen
historischen Ort. Ihre künstlerische Tätigkeit beginnt gerade
auch mit Vereinzelung und mit einem Ritual. Die Fundstücke, Auslöser
des Denk- und Wahrnehmungsprozesses, werden in einem Initiationsakt
isoliert, aus ihren ursprünglichen Kontexten gerissen, auf ein
Podest (o.ä.) gestellt und derart partikular der künstlerischen
Betrachtung ausgesetzt. Es folgt eine Meditationsphase, die Versenkung
in die visuelle Struktur des Gegenstandes innerhalb des neuen
Umfeldes, die konzentrierte innere Wahrnehmungsübung, meist materialisiert
in naturalistischen Zeichnungen, die in einem nächsten Schritt,
einer als Katharsis bezeichneten Phase, durch die Vermerke erster
Re- und Aktionen um den, Gegenstand, unbewußte und willkürlich
assoziative Äußerungen erweitert werden. Beide faßt Anna Oppermann
als »unbewußten« Primärprozeß, im »bewußten« Sekundärprozeß folgen
Analysen und Reflexionen, feed-back aus der Distanz.(10) Hier werden die gesammelten Re/aktionen zer- und neu gegliedert,
durch Einschätzungen von außen, durch Fremdäußerungen ergänzt
und hintertrieben, in einem zusammenfassenden Foto die erste Bedeutungskonstellation
festgehalten. Anschließend, die Abfolge ist keine Zwangsjacke,
wird mit dem vermehrtem Material der Prozeß erneut in Gang gesetzt.
Dem unerfüllbaren Wunsch, ein Ding ganz und gar zu besitzen, es
unter Kontrolle zu bringen, indem man es von seinen störenden
Kontexten reinigt, es hervorhebt, konserviert, pflegt und präsentiert
als repräsentative Instanz, die alle Bezüge zur »Realität« verloren
hat, setzt Anna Oppermann eine Verfahrensweise entgegen, die die
Uneindeutigkeit und Uneinholbarkeit der Gegenstände in Sprache
und Bild produktiv wendet, indem sie sie in wechselnden, komplexen
Zusammenhängen besichtigt, an ihnen die unterschiedlichsten rationalen
wie emotionalen Erfahrungsoperationen erprobt. Diametral zu jedwedem
historisierenden Interesse hindert die Künstlerin ihre Alltagsfundstücke
am Verschwinden, um sie in künstlichen, imaginären, illusorischen,
symbolischen Zusammen-Setzungen weiterleben zu lassen. Die Sucht
nach Stellvertretung wird in dieser Fahndung aufgelöst, die möglichst
viele Dimensionen und Bedeutungsschichten, die Einschätzungen
der Fahnderin, ihre Prozeßnotizen und -beobachtungen, immer wieder
neue Anhaltspunkte und Informationen, alle Verschiebungen und
Umbewertungen des Falles im Prozeß sowie eine Reihe von Zeugenaussagen
synchron präsentiert. Dennoch ist es nicht so, daß alles gleich-gültig
ist, daß alle Erfahrungen gleich wichtig oder wahr sind, oder
daß es keine Trennung in negativ oder positiv Bewertetes gibt:
Die künstlerische Fahndung zum jeweiligen Ensemblethema verläuft
weder zielgerichtet von einem Punkt A auf einen Lösungspunkt B,
noch versucht sie eine systematische oder strukturelle Erforschung
des Themenfeldes. Sie ist immer deutende, tendenziell problematisierend
und kritisch ausgerichtet, wie es schon in den thematischen Stichworten
anklingt, die die Künstlerin zu (fast) allen ihren Arrangements
notiert hat.(11) Zwischen den so markierten Polen springen die Ermittlungen,
ausgehend von der psychosozialen Situation der Fahnderin, ihrem
selektiven Rückgriff auf die Archive kulturellen Wissens und die
tagtäglichen Informationsfluten. Persönliche wie allgemeine, aktuelle
und vergangene Erfahrungsausschnitte werden in den Bildern (re)produziert
und immer wieder umgeschichtet, werden zu erinnerten und Erinnerungen
auslösenden Schichten im Gedächtnis-Ensemble.
Spontan ist man geneigt, die Oppermannschen Bildkonglomerate als
materialisierte Erinnerungsbilder, als Bannungen des Flüchtigen,
Speicher des Blicks aufzufassen. Besonders wenn man beispielsweise
Henri Bergsons Metapher der »geistigen Photographien«(12), wie sich ihm die vermeintlich lückenlos und automatisch
registrierten, nicht dem kontrollierten Zugriff bereitstehenden
Engramme darstellten, parallel zu den fotografierten Momentkonstellationen
liest. Doch sind die Ensembles immer beides: Äußerung und Erinnerung.
Im wechselseitig bedingten Prozeß werden beständig Äußeres, Objektives,
Vorgefundenes, ausgewählte Bruchstücke der allgemeinen/alltäglichen
»Umwelt« ver- und damit erinnert und die inneren Re/aktionen des
Subjektes, seine Gedanken, Emotionen, Visionen um dieses Äußere
ver- und damit geäußert. Dabei bleibt es nicht. Äußerung und Erinnerung
lösen einander fortlaufend ab, das Geäußerte wird wiedererinnert
in neuen Zusammensetzungen, das Erinnerte wiederveräußert in weiteren
Auseinandersetzungen der Künstlerin. Das Ensemble ist der Austragungsort,
Seh- und Denkgebäude dieser sonst unsichtbaren Prozeßbewegungen.
Also doch ein Speicher des Flüchtigen? Gewiß, aber einer, der das Gespeicherte flüchtig beläßt, dessen Archivate erst durch die körperliche Bewegung im Raum, das visuelle Abtasten der Gegenstände und Umräume, die gedankliche Wanderung durch die alltäglichen, kulturellen und selbst angelegten Gegenstandssammlungen und Archive entstehen. Kein Ort der Sicherheit und des Wiedererkennens, also systematisierter Erinnerungen, die zielgerichtet auf Aktionen umlenkbar wären. Anna Oppermann löst die Orientierung und Zielgerichtetheit auf, die flüchtigen Bilder werden nicht mnemotechnisch verortet. Alle Bildschichten verzeichnen nur Ortsreste, die die Abbildungsgegenstände nicht in konkreten räumlichen Situationen lokalisieren oder ihnen definierte Plätze in einer Raumkonstruktion zuweisen. Die Registration verzeichnet Lücken - eben wie ein Gedächtnis, Vergessen ist ihm inhärent, ist notwendige Bedingung einer möglichen Erinnerung. Auch kann der Blick der Künstlerin nur Ausschnitte einfangen, hinter denen aber andere, denkbare und visuell erfahrbare Zustände rudimentär zurückbleiben oder ganz verschwinden. Wieder andere, fast verschollen im Prozeß oder in einem gänzlich anderen Winkel des verzweigten Gesamtwerkes abgelegt, tauchen auf aus der bildgeschichtlichen Tiefe oder werden hervorgeholt aus den entfernten Denkzusammenhängen und erneut ein- und angeordnet im Bildraum. Die Prozeßdokumente verlieren so ihre konkrete, datierbare Vergangenheit, sie löst sich auf in einem kunstvollen Netz von Verweisen, einer synthetischen An-Ordnung des assoziativ Verbundenen, in komplexen Präsentationen, die künftige Veränderungen und Erweiterungen in Aussicht stellen.
In diesem Sinn ist das ausgestellte Gedächtniswerk Ensemble ein ganz und gar gegenwärtiges, das er-/gefundene Vergangenheiten und potentielle Zukunften synchronisiert. Obwohl diskontinuierlich und nicht konsistent, entsteht ein Zeitfeld, ein Feld aus Betrachtungen und Imaginationen, ohne Trennungslinien zwischen den Zeitstufen. Ein präsentiertes Ensemble wäre hiernach die Spanne (von manchmal 15 oder 20 Jahren) und der Spielraum geschichteter Gegenwarten, ein stillgestellter Moment in seiner eigenen Transformation, im Übergang zu einer nächsten Zukunft. Anna Oppermann waren die in den Ensembles aufgefangenen Zeichen, die verschachtelten Bilder-Gedanken Mo(nu)mente, nicht Dokumente (Beweisstücke), ebenso Zeichen einer vergangen-gegenwärtigen Reflexion wie erinnerungs-, assoziationsauslösende Zeichen; und sie sind auch für die heutige Rezeption doppelte Denkzettel: Abbilder der sinnlichabstrakten Erfahrungen der Wahrnehmungs- wie Denkbewegung, Arabesken der verzweigten Fahndungsergebnisse, und Denkanstöße, mäandernder Beweggrund für weitere (unvorhersehbare) Erfahrungen.
Anmerkungen:
(1) Michel Foucault. Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zur
Literatur. Frankfurt/M 1988, S. 13
(2) Offiziell seit Ende 1993 sichern und katalogisieren Karolina
Breindl, Kunsthistorikerin aus München, und die Autorin unter
der verantwortlichen Leitung Herbert Hossmanns, des langjährigen
Lebensgefährten Anna Oppermanns, den künstlerischen Nachlaß in
Hamburg und Celle.
(3) Die Aufbauten der Ensembles Pathosgeste - MGSMO im Rathaus Altona, Hamburg,
Öl auf Leinwand und
MKÜVO - Mach kleine überschaubare verkäufliche Objekte in der
Hamburger Kunsthalle, wurden unter der Leitung der Künstlerin
installiert. Zwei weitere, das Ensemble
Umarmungen, Unerklärliches und eine Gedichtzeile von R.M.R. im
Sprengelmuseum in Hannover sowie das Ensemble
Cotoneaster horizontalis (Antikommunikabonsdesign) im Wuppertaler
Von-der-Heydt-Museum, wurden seit 1993 vom Nachlaßteam nach ihren
künstlerischen Maßgaben als interpretierte Neuinstallationen,
angepaßt an die andersartigen räumlichen Bedingungen, aufgebaut.
Auch in Odense, Dänemark und Sidney, Australien hat das o.g. Team
Ensembles für temporäre Ausstellungen neu installiert.
(4) s. Anna Oppermann. Ensembles 1968-1984. Hamburg/Brüssel, 1984.
(Mit Textbeiträgen von U. Schneede, B. Brock, M.Schneckenburger u.
H.-P. Althaus.) Da der Nachlaß bislang noch nicht komplett gesichtet
ist, muß die zahlenmäßige Festschreibung auf 66 Ensembles vorläufig
bleiben.
(5) Geplant ist die spätere Veröffentlichung des Oeuvreverzeichnisses
auf CD-ROM, die die Datenmengen dem spezifischen Zugriff auch
heterogenster Forschungsinteressen zugänglich machen wird. Als
Pilotprojekt hat Carmen Wedemeyer, Universität Lüneburg, eine
erste computergestützte Aufarbeitung vorgelegt, die (immer eingeschränkt)
alle bildlichen und textlichen Daten rund um das Ensemble Umarmungen...
(s. Anm. 3) in einem
hypermedialen Archiv verknüpf- und abrufbar hält.
(6) Die Wortkombination aus Archivalien und Asservaten begreift
die Dokumente als Fahndungsauslöser und Ergebnisse einer Tätigkeit,
Auswahl oder Produktion.
(7) So ungewöhnlich die Präsentationsform auch für das Auge des
20. Jahrhunderts ist, so vertraut erschiene sie womöglich früheren
Jahrhunderten, berücksichtigt man die strukturellen Ähnlichkeiten
mit der Bilderhängung in den Salons des 19. Jahrhunderts, mit
den Sammlungsarrangements der Kunst- und Wunderkammern, besonders
der Raritätenkabinette der Spätrenaissance. Die denkgeschichtlichen
Parallelen/Divergenzen aufzuzeigen, ist an dieser Stelle leider
nicht möglich. Gerade die Untersuchung der veränderten Sammelmotivationen
und Präsentationsformen, die kulturhistorische Perspektive auf
Anna Oppermanns Ensemblewerke ist interessant.
(8) Eva Sturm. Konservierte Welt. Museum und Musealisierung. Berlin,
1991, S. 9
(9) ebd., S. 109
(10) Aus den vielen Texten zu ihrer Methode, die Anna Oppermann
publiziert hat, sei hier verwiesen auf: Das, was ich mache, nenne ich Ensemble. In: Anna Oppermann. Ensembles
1968-1984. Hamburg/Brüssel, 1984, S. 28f.
(11) Beispiel: Thema/Stichworte der Pathosgeste (s. Anm. 3): Pathos, hohles Pathos, Suggestion, Manipulation, Geld-Macht-Beziehung,
Werbe- und Verkaufsstrategien, Zeitgeist, Postmoderne, Verpackung,
der Mensch und das »Mehr«. In: Anna Oppermann. Pathosgeste. Hamburg/Brüssel,
1987, S. 4. Auch Karolina Breindl stellt in ihrer Analyse zum
Ensemble Umarmungen... (s. Anm. 3) eben diese »problematische.
Richtung« heraus. In: dies., Urmarmungen... Eine exemplarische
Untersuchung. Unveröff. Magisterarbeit. Universität München, 1990,
S. 28
(12) Henri Bergson. Materie und Gedächtnis. Hamburg, 1991, S.
66 ff., Zitat S. 77
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